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Roman
Das verrottete Paradies — Adam Johnson entwirft ein absurdes Nordkorea
22.07.2013 | Hamburg
Vielleicht ist seit Charles Chaplins berühmtem Film „Der große Diktator“ kein Staatschef mehr so überzeugend als nichtswürdiger, skrupelloser Idiot dargestellt worden wie der Geliebte Führer Kim Jong Il in Adam Johnsons Roman „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“. Zweifellos haben die Drohgebärden der nordkoreanischen Führung Anfang dieses Jahres die Popularität des Romans befördert, jedoch enthebt ihn dessen schiere Qualität des aufkommenden Verdachts, hier sei ein Literatur-Hobo auf den fahrenden Zug gesprungen. Den klaren Zeitbezügen zum Trotz ist Johnson nämlich ein großer, allgemein gültiger, zutiefst humaner Roman gelungen, der sich in respektvoller Nähe zu ähnlichen Epen der Weltliteratur aufhält.
Jun Do ist der Sohn des Aufsehers im Waisenhaus „Frohe Zukunft“, benannt nach einem Märtyrer der Revolution wie alle anderen Kinder dort. Jeden Abend ertränkt der Vater seinen Kummer darüber, daß seine Frau als Sängerin nach Pjöngjang verschleppt wurde, in Alkohol. Die Waisenkinder werden für die niedrigsten Arbeiten eingesetzt, Jun Do nimmt sich ihrer anstelle seines indisponierten Vaters an, Mitgefühl bleibt dabei unter den harten Bedingungen meist auf der Strecke. Mit vierzehn wird Jun Do „als Tunnelsoldat in der Kunst des lichtlosen Kampfes ausgebildet“. Damit beginnt seine unaufhaltsame Instrumentalisierung in einem Staat, der keine Freiheiten kennt, sich aber mit Superlativen schmückt, als sei er das beste Land der Welt. Jun Do wird als Entführungsspezialist und später als Abhörtechniker auf einem Fischerboot eingesetzt, und schließlich gelingt es ihm sogar, als Vorzeige-Opfer für die Propagandamaschinerie bis ins ferne (und feindliche) Texas zu kommen; doch eine Flucht bleibt ihm, der sich in Freiheit hilflos fühlt, unmöglich — der Lohn seiner patriotischen Treue ist das Straflager. Mit dem unheilvoll lakonischen Satz: „und an dieser Stelle verliert sich der weitere Weg des Bürgers Pak Jun Do“ endet der erste Teil des Romans. —
Wer ist Kommandant Ga? Das ist die Frage, die ein Verhörspezialist ein Jahr später klären muß. Ist der Mann, der vor ihm sitzt und sich dank eines ausgezeichneten Schmerztrainings gegen die Folter zu wehren weiß, der berühmte Staatsheld — oder nahm jemand anderes seine Stelle ein? Und warum wird der als Hochstapler Verdächtigte von allen akzeptiert, auch von seiner Frau, einer Schauspielerin mit dem klingenden Namen Sun Moon, und dem Geliebten Führer höchstselbst? Aus drei verschiedenen Perspektiven und achronologisch entwickelt sich im zweiten Teil des Romans das Puzzle um die Person des angeblichen Kommandanten Ga, dem Jun Do das Leben geraubt hat, wie es zuvor ihm selbst gestohlen wurde. (Der deutsche Titel von „The Orphan Master’s Son“ spielt trefflich mit dieser Doppeldeutigkeit.)
Welche Bedeutung des Film „Casablanca“ hat und welche Rolle ein von den Nordkoreanern entführtes „Rudermädchen“ dabei spielt, soll an dieser Stelle nicht verraten werden, denn Adam Johnsons Roman gewinnt bei aller Bedächtigkeit des Erzählens gegen Ende eine beträchtliche Spannung. Hauptthema bleibt jedoch immer das Schicksal eines Einzelnen in einem zynischen, menschenverachtenden und ideologisch wahnsinnigen Staat, in dem das Individuum nichts gilt und noch im Tod als Blutbank dienen muß. Auf Satire kann eine solche Darstellung kaum verzichten, meist ergibt sie sich allerdings aus dem Geschehen selbst — etwa wenn die Nordkoreanische Führung Nahrungsmittelhilfe für die Amerikaner zusammenstellen, während das Volk selbst die Dächer der Häuser begrünen muß, um Ziegen auf ihnen halten —, aber von besonders unfreiwilliger Komik sind die Ausstrahlungen des in alle Winkel schallenden Rundfunks, die einen Erzählpart übernehmen. Berichtet der personale Erzähler: „Der Geliebte Führer stand allein da, völlig orientierungslos (...). Er hatte das blutige Spektakel direkt vor Augen, aber ein nicht von ihm orchestriertes Ereignis schien sein Gehirn nicht verarbeiten zu wollen. (...) Dann wurde der Blick des Geliebten Führers vollkommen leer“, verklärt der Rundfunk dieselbe Situation zu purem Heldentum: „Unser Geliebter Führer mobilisierte seine militärische Ausbildung, sprintete los und verfolgte die Feiglinge (...). Direkt in den feindlichen Kugelhagel rannte der Geliebte Führer. Eine Friedenstaube nach der anderen flatterte den Kugeln in den Weg und zerbarst im daunigen Glühen patriotischer Selbstaufopferung.“
Daß es einem totalitären Regime sogar in diesem hochabsurden Szenarium nicht gelingt, dem Menschen Liebe und Mitgefühl völlig auszutreiben, ist noch die tröstlichste Botschaft dieses unerträglich düsteren Romans, der an Szenen körperlicher und seelischer Gewalt allzu reich ist, ohne in Übertreibungen zu verfallen. Eine Identifikationsfigur ist Jun Do deshalb beileibe nicht, allzu fremd sind seine Gefühle und Konflikte, aber gerade durch diese distanzierte Haltung, mit der Jun Do sein Schicksal hinnimmt und die letztlich nur dessen innere Leere und Kälte spiegelt, kann sich der Protagonist des vollen Mitgefühls des Lesers sicher sein. Wo ein Name austauschbar ist und die Wahrheit das, was auch immer der Führer dazu erklärt, stellt jede menschliche Regung ein Wunder dar.
Nordkoreanische Köpenickiade, absurde Dystopie, Entwicklungsroman, Liebesdrama: all diese Elemente vereint Adam Johnsons Roman, aber um den Entwurf eines in jedem Aspekt realistischen Nordkoreabildes dürfte er allemal nicht handeln — und will es auch gar nicht. Die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen, und wenn Johnson in einem der Originalausgabe angefügten Gespräch bemerkt, er habe viele Stellen aufgehellt, dann sind wir, die vom dargestellten Leid ohnehin arg gebeutelten Leser, ihm dankbar dafür. Gerade die Distanziertheit des Protagonisten und die Unschärfe der Beschreibung erzeugen in diesem Fall eine eindringlichere Wirkung als reportierende Genauigkeit. „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ ist letztlich nicht an Ort und Zeit gebunden, die Konflikte und Gefühle gelten, cum grano salis, für alle Diktaturen. Mit diesem Wurf epischen Ausmaßes gesellt sich Adam Johnson zu einem anderen Meister des Gegenwartsromans, David Mitchell, und dies dürfte ein nicht geringes Lob sein. Unvergeßlich bleibt die Lektüre schon allein deshalb, weil man mehr als nur ahnt, daß dieser bizarre Alptraum sich in Nordkorea wirklich zugetragen haben könnte.
Exklusivbeitrag
Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Anke Caroline Burger. ISBN: 978-3518464250. 22.95 Euro. Suhrkamp, Berlin 2013.
Jürgen Brocan hat zuletzt über »Vom Gehen und Stehen«, ein Handbuch von Martina Hefter auf Fixpoetry geschrieben.