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Roman
Ein Roman wie Aspirin für Liebeskranke – Orhan Pamuks „Museum der Unschuld“
"Wenn die Dinge, wegen der wir uns schämen, in einem Museum ausgestellt sind, werden sie sogleich zu etwas, worauf man stolz sein kann.", sagt Kemal am Ende des Romans zu seinem treuesten Zuhörer und fürwahr gibt es eigentlich nie einen Grund, sich für seine Gefühle zu schämen, solange sie aufrichtig und echt sind. Orhan Pamuk, der "Anthropologe der Liebe", der in seinem hier 2008 erschienen Buch auch sich selbst eine kleine Nebenrolle zugedacht hat, hatte in den Siebziger Jahren eigentlich Architektur studiert und wurde erst später über die Publizistik zum Schriftsteller. Vielleicht hat er dies, nachdem er 2006 den Nobelpreis bekam, auch etwas bereut, denn als er "Museum der Unschuld" schrieb, hatte er bereits vorher ein eigenes Museum im Kopf, das nun tatsächlich im Herbst 2010, in der Kulturhauptstadt Europas 2010, Istanbul, verwirklicht werden soll.
In Zusammenarbeit mit zwei deutschen Architekten, Sunder-Plassmann, wird in Cukurcuma, ganz in der Nähe der bekannten Istiklal Caddesi in Beyogulu, sein Museum der Unschuld gebaut und ähnlich wie das Buch in 83 Kapiteln geschrieben ist, soll auch das Museum in 83 Inszenierungen eine ganz besondere Liebesgeschichte, nämlich die zwischen Kemal und Füsun, ihren Gedenkort mit vielen verschiedenen Ausstellungsobjekten, die auch im Buch vorkommen, bekommen. Das bereits 1897 errichtete Wohnhaus wird in Zusammenarbeit mit dem Autor derzeit so umgestaltet, dass "von jedem Punkt aus die gesamte Sammlung mit sämtlichen Vitrinen und allem zu überblicken sein muss", wie es Kemal im Roman ausdrückt. "Der Sound der Stadt, computergesteuerte Lichtbahnen, die vorüber gleitende Autoscheinwerfer simulieren, dreißig verschiedene Klangspuren, die den Geräuschteppich des quirligen Cukurcuma-Viertels weben – all das soll in das Museum integriert werden", heißt es in der aktuellen Merian-Ausgabe, Januar 2010, die ganz der Europäischen Kulturhauptstadt 2010 gewidmet ist. Die beiden Architekten würden übrigens – laut derselben Quelle – gerade von Pamuks "kindlichem Gemüt, gepaart mit hundertprozentiger Ernsthaftigkeit" schwärmen und über seine Einwände "Yes, I understand - but…" amüsiert lächeln. Dass sie mit der Verwirklichung des "Museums der Unschuld" Geschichte schreiben und das nicht nur in literarischer oder architektonischer Hinsicht, dürfte wohl allen Beteiligten klar sein, denn so ein Projekt hat es bisher noch nie gegeben. Ein Platz im Olymp der Literaturgeschichte ist ihnen also allen bereits reserviert und man darf mit Spannung die Eröffnung des Museums erwarten, besonders auch, weil im Buch eine Eintrittskarte abgedruckt ist, mit der man sich dann ein schönes Andenken und auch einen Gratis-Eintritt abholen kann. Vorausgesetzt man schleppt den 571-Seiten Wälzer dann tatsächlich auch mit zur Vernissage…
"Die Vergangenheit wohnt wie eine Seele den Dingen inne und in jenem kleinen, stillen Museum fand ich Schönheit und Trost". Kemal, der Protagonist des Romans ist unsterblich in die arme Verwandte Füsun verliebt und da Kemal, Spross einer reichen Familie der Oberschicht bald mit seinesgleichen verlobt werden soll, treffen sich die beiden Liebenden geheim in den Merhamet Apartmani. Ganze eineinhalb Monate dauert die Affäre, denn als Kemal mit Sibel im Hilton-Hotel verlobt wird, verschwindet Füsun wie vom Erdboden verschluckt. Kemal beginnt nun mit seinem Sammlertick, er sucht weiterhin das Merhamet Apartmani auf, um Gegenstände seiner Geliebten zu finden und diese dann zu streicheln, liebkosen oder einfach nur zu "inhalieren". Seine Obsession – oder Sammlerleidenschaft - nimmt aber noch viel groteskere Ausmaße an, als er Füsun ein Jahr später endlich wieder findet: verheiratet mit einem jungen dicklichen Filmregisseur und im Hause seiner Verwandten wohnend. Füsun und Kemal sind nämlich entfernte Verwandte, was die vor- und außereheliche Affäre - wohlgemerkt in der Türkei der Siebziger - wohl noch um einiges pikanter werden lässt. Nun, nachdem er seine Füsun wieder gefunden hat, beginnt Kemals eigentlicher Canossagang, denn er pilgert mehrmals die Woche zu den Verwandten, isst mit ihnen, schaut mit ihnen fern und bewundert aus den Augenwinkeln "seine Füsun" ohne sie jemals wieder berühren zu dürfen, denn sie ist ja nun eine verheiratete Frau, auch wenn es der Ehemann vorzieht, mit seinen Filmkumpels saufen zu gehen. Im Rahmen seiner Besuche lässt Kemal auch immer wieder etwas aus dem Hause mitgehen, selbstverständlich nur, um sie heimlich in sein Zuhause zu tragen und sie dort dann alleine zu genießen.