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Wenn
die Familie zurückbleiben muss
Der »Preis für das beste Album« ging auf der
diesjährigen Comicmesse in Angoulême an »La où vont nos pères«.
Der Australier Shaun Tan erzählt darin die Geschichte eines Mannes, der sich
in der Ferne ein besseres Leben erhofft.
Von
Thomas Hummitzsch
Ein Mann
packt seinen Koffer, bedacht, sorgfältig und ohne Hast. Er tritt eine Reise
an, von der er nicht zurückkommt, das weiß er ebenso gut wie seine Frau. Das
Familienbild, sorgfältig in weißes Tuch geschlagen, liegt im Koffer obenauf.
Ein letztes Mal tritt er mit seiner Familie, die ihn zum Bahnhof begleitet,
aus dem Haus. Dort angekommen, drückt er seiner Tochter eine Taube aus
Papier in die Hand und umamt sie ein letztes Mal. Ihren sorgenvollen Blicken
weicht er aus. Dann wendet er sich seiner weinenden Frau zu. Auch sie
schließt er noch einmal in seine Arme, flüstert ihr die letzten warmen Worte
ins Ohr und steigt dann in einen Zug. Den Zug nach Nirgendwo.
Shaun
Tan vereinnahmt nicht einfach nur mit seinen Bildern, sondern er rührt an,
wühlt auf, verstört und fasziniert – ohne ein einziges Wort. Wie
Sepia-Schnappschüsse wirken seine Einzelbilder, die in seinem Album mit dem
Titel „La où vont nos pères“ („Wo unsere Väter hingingen“) die anonyme
Geschichte eines Migranten erzählen. Die Ruhe und Stille der Bilder
verleihen der Erzählung ihre Ausstrahlung und Faszination, die die Jury des
diesjährigen französischen Comicsalons in Angoulême veranlasst hat, dem
Album den Preis für das beste Album zu verleihen. Allein die Tatsache, dass
im Nachhinein nicht wieder die große Debatte losgetreten wurde, ob ein Comic
Text benötigt oder nicht, beweist die Qualität dieses Titels. Die
Zeichnungen entwaffnen die Verfechter der comicalen Textverbundenheit. Keine
sprachliche Sinfonie könnte Shaun Tan’s Geschichte auch nur annähernd so
eindrucksvoll und berührend erzählen, wie dies seine Zeichnungen tun.
Mit diesem Comic
erschuf der Australier, dessen Vater 1960 aus Malaysia den fünften Kontinent
erreichte, nicht nur einfach eine Geschichte, sondern er erschuf Millionen
Geschichten auf einmal. In „La où vont nos pères“ findet sich jede einzelne
Geschichte der Millionen Flüchtlinge, Arbeitsmigranten und Auswanderer des
Heute und des Gestern, die alle das Bekannte zurücklassen müssen und sich
aufmachen in ein riskantes Abenteuer, dessen Ausmaß sie nicht im Geringsten
erfassen können. Shaun Tan’s Flüchtling ist DER Migrant unter den Migranten
und erlebt exemplarisch das Schicksal der wandernden Millionen dieser Welt.
Angekommen im „gesegneten Land“ findet er sich in einer ihm völlig fremden
Welt wieder. Dieses verheißene Land erinnert am ehesten an ein
überdimensioniertes surreales Stilleben, welches zuweilen die Aura eines
orwell’schen Überwachungsstaates umgibt. Die Fremde wirkt dabei zuweilen
dermaßen erdrückend, dass dem Leser beim Betrachten des Geschehens schier
die Luft wegbleibt. Nur mit Hilfe seiner Hände und Füße kann sich DER
Migrant verständlich machen. Er trifft auch andere Flüchtlinge, die ähnliche
Geschichten unter ihrem Herzen tragen, wie er es tut. Diese helfen ihm,
anzukommen in einer völlig fremden Gesellschaft, Fuß zu fassen und sein
Schicksal in die Hand zu nehmen – denn dafür ist er schließlich gekommen.
Doch auch die beängstigenden Aspekte der Fremde hat Tan festgehalten;
Xenophobie und das allgegenwärtige Gefühl, beobachtet zu werden, finden sich
in den ausdrucksstarken Bildern Shaun Tan’s.
Vier geschlagene Jahre
arbeitete der junge Australier an diesem Album, sammelte Erzählungen und
Anekdoten von hunderten von Flüchtlingen und Migranten. Nur noch wenige
Bilder haben seine Gesprächspartner von ihrer Zeit als Flüchtling gehabt,
die Orte, wo sie lebten, gibt es inzwischen oft gar nicht mehr. Diese
„vergessene Welt“, die oft nur noch in den Erinnerungen der Migranten selbst
ruhe, wollte er wieder auferstehen lassen, so Tan in einem Interview mit
seinem französischen Verleger. Die Stille seines Comics ermöglicht es jedem
Einzelnen, die ganz persönliche vergessene Welt wieder auferstehen zu
lassen. Aber vor allem lässt sie dem Leser die nötige Zeit und den Raum,
sich auf ihre ganz eigene Erzählung einzulassen. Die Zeichnungen können hier
ihre Wirkung entfalten und ihr Tempo und Rhythmus werden nicht von der
gewohnten Dominanz der wörtlichen Erzählung diktiert. Die Freiheit des
Bildes ist hier so vollkommen, dass erst hier das Bild seine volle Wirkung
entfalten kann. Wo es in anderen Comics zuweilen zu Unrecht hinter dem Text
zurücksteht, bekommt hier das Bild seinen ihm gebührenden Rahmen. „La où
vont nos pères“ ist ein fulminantes und zugleich atemberaubendes
Meisterwerk, das in diesem Jahr völlig zu Recht mit einem der
renommiertesten Preise der Comicwelt ausgezeichnet wurde. Die
Sprachlosigkeit der Bilder macht es zu einem universalen Geniestreich,
dessen Aussage der chinesische Wanderarbeiter ebenso verstehen kann, wie der
mexikanische Arbeitsmigrant. Wer etwas über das Wesen und die
Herausforderung der Migration erfahren möchte, erfährt es nirgendwo
eindrucksvoller, als in „La où vont nos pères“.
Thomas Hummitzsch
Homepage von Shaun Tan
|
Shaun Tan
La où vont nos pères.
Édition Dargaud. Paris 2007.
128 S., 15 €.
ISBN 9782205059700
Homepage von Shaun Tan |