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Turbulenzen bei der Lektüre von Jonathan
Littells
»Die Wohlgesinnten« kommentiert von Goedart Palm
© 2007
David Monniaux
Jonathan
Littell präsentiert den fiktiven Lebensbericht des SS-Offiziers Dr. Max Aue
als naturalistisch obsessives Epos, um das Pandämonium des Krieges in
möglichst vielen Facetten zu schildern. In Frankreich wurden »Die
Wohlgesinnten« (»Les Bienveillants«) rund 800.000 Mal verkauft, in
Deutschland erreicht der Roman mühelos die Spitze der Beststellerlisten.
Ungewöhnlich bis skandalös erscheint die Wahl einer zuvor literarisch und
moralisch verschlossenen Perspektive, die dem jüdischen Autor entweder als
fragwürdiger Kunstgriff oder genialische Konversion ausgelegt wurde.
Wichtiger als der Inhalt ist der literarischen Öffentlichkeit Deutschlands
bekanntlich der dissensorientierte Diskurs, der sich wie immer darin
überbietet, hitzige Literaturinterpretationen als kanonisierbare
Geschichtsexegesen vorzustellen, wenn der Buchdeckel noch nicht ganz
zugeklappt ist. Meinung ist wichtiger als Lektüre, was immerhin den
pädagogischen Effekt beschert, gelegentlich eher unerreichbare Leser
anzuwerben. Das weiß nach einigen harten Online-Jahren auch die FAZ, die
eigens zur Lektüreverarbeitung dieses Wälzers einen virtuellen Readingroom (readingroom.faz.net/littell)
präsentiert. Hier wird dickleibige Literatur als leidlich unterhaltsamer
Blogger-Dir-einen-Diskurs inszeniert, um die flüchtige Aufmerksamkeit
wenigstens hin und wieder auf Texte zu lenken, die beanspruchen, mehr zu
sein als visuelle Benutzeroberflächen. Ist dieser Roman über einen knietief
in Blut und anderen Flüssigkeiten watenden SS-Mann nun eine echte
literarische Entdeckung, wie es der dem Autor gerade verliehene Prix
Goncourt vermuten lässt, oder als spekulative Blut- und Hodenliteratur die
Fortsetzung des Splatter-Channels mit literarischen Mitteln?
Für
die WELT ist Jonathan Littell jedenfalls nicht mehr als ein
aufmerksamkeitsheischender »Nazi-Synthesizer«:
»Kann
es sein, dass Littell mit 'Die Wohlgesinnten' gar kein literarisches Neuland
betritt, sondern nur einsammelt, was je über das größte
Menschheitsverbrechen gesagt und geschrieben wurde? Und als Frucht fleißiger
Lektüre bastelt er seine Figur Max Aue nach der Maßgabe der
Tabuverletzungsoptimierung: Nazi, Intellektueller, Deutscher, Franzose,
Homosexueller, inzestuöser Heterosexueller, Magenkranker.«
Das Verdikt, kein literarisches Neuland zu betreten, beschreibt kaum mehr
als eine lässliche Sünde, da solche herbeigesehnten Aufbrüche vor allem ein
Desiderat der Feuilletons sind, so wenig ersichtlich ist, wo die denn in den
letzten Jahrzehnten überhaupt noch stattgefunden hätten. Der Wechsel von der
Opfer- zur Täterperspektive scheint uns dagegen mehr zu sein als ein bedingt
tauglicher Kunstgriff, der jene Aufmerksamkeit garantiert, die eine bloße
Aneinanderreihung von barbarischen Ereignissen allein nicht erzielt hätte.
Iris Radisch lässt an
Jonathan Littell indes kein gutes Haar. Der spiele 1400 Seiten lang den
SS−Obersturmbannführer und betreibe Nazi-Veredelung. Sie erregt sich über
die Konstruktion des Protagonisten Dr. Aue:
»Er
ist kein blinder Technokrat, sondern ein Edelnazi, der die Judenfrage gerne
kühler, sachlicher und vor allem für das Deutsche Reich effizienter gelöst
hätte. Immer wieder wird in dem Roman suggeriert: Mit diesem, dem
intellektuellen, dem nüchternen und geläuterten und nicht durch 'viele
Mechanismen der Entscheidungsfindung pervertierten und verderbten'
Nationalsozialismus hätte man auskommen können. Über eine derartige
Ehrenrettung des gehobenen Nationalsozialismus muss nicht debattiert werden.«
Obwohl Radisch dem Autor ausdrücklich bescheinigt, dass die ungewöhnliche
Perspektive des Romans nicht das Problem sei, gereicht es Littell wohl zum
Verderben, dass er das Verderben nicht so erlesen verdorben schildert, wie
wir es uns immer vorgestellt hätten, wenn wir denn gewusst hätten, wie diese
Vorstellung funktioniert. Verfluchte Imagination. In diesem Vorwurf steckt
ein paradoxes Darstellungsproblem jeder Literatur, die nicht zu
beschönigende Wirklichkeiten ästhetisiert, weil sie sich den medialen
Konsequenzen der Literatur respektive Sprache nicht entziehen kann.
»Moderne
ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete.«
Mit dieser plakativen Losung Theodor W. Adornos war das Problem längst nicht
gelöst. Wie gelingen Darstellungen des Grauens, wenn die Konstruktion
verschlossen ist, Literatur und unerträgliches Leid zur anspruchsvollen
Lektüre zu verschweißen? Die »Banalität
des Bösen«
hieß auch, dass barbarische, zugleich aber wenig spektakuläre Umstände zu
beobachten sind, ohne die Genese des Schreckens erschöpfend zu erklären.
»Die
wirkliche Gefahr - vor allem in unsicheren Zeiten - sind die gewöhnlichen
Menschen, aus denen der Staat besteht. Die wirkliche Gefahr für den Menschen
bin ich, seid ihr«,
sagt Aue. Und in dieser Aussage blinzelt Littell dem selbst gerechten Leser
einschließlich seiner Kritiker zu, die den Schrecken überall, aber immer
jenseits ihrer Identität verorten.
Auch die gegenwärtig gern
eingesetzte Begriffskeule »Geschichtspornografie«,
zuletzt traf es Guido Knopp, zerschlägt nicht die literarischen
Aporien, die mit Littells Darstellungsproblem verbunden sind. Die
Menschheitsgeschichte ist durch und durch pornografisch und wird es nicht
erst durch ihre drastische Nachstellung in einem Medium, das in virtuellen
Zeiten die Gnade gewährt, unsinnlich zu sein.
»Die
Wohlgesinnten«
des 40-jährigen, französisch schreibenden Amerikaners Jonathan Littell ist
ein großartiges Buch, mag es auch zu den grausamsten der Weltliteratur
gehören.«,
verteidigt Klaus Theweleit den Autor gegen die Übermacht der Kritiker.
Theweleit hat immerhin seine Sensibilität im Umgang mit faschistischen
Macht- und Körperideologien bewiesen. Eine völlig andere Lektüre finden wir
bei Wolf Scheller: »Das
alles aber rauscht über uns hinweg wie ein gigantischer Wasserfall, ein
gefühls- und lebensloser Wortschwall«.
Der
SS-Mann als literarische Figur
Funktioniert dieser Text als psychologischer Roman der Einfühlung oder ist
Dr. Aue so konstruiert, »wie
sich eben der kleine Moritz die Finsterlinge aus Himmlers 'Orden unter dem
Totenkopf' vorstellt«
(Wolf Scheller). Wie stellt man sich überhaupt SS-Leute vor, wenn man keiner
ist? Insofern fällt die Kritik an dem vermeintlichen Kitsch-Kolporteur und
Nazi-Veredler Littell schnell auf sich selbst zurück, wenn einige
verdrossene Chefleser die psychologische wie narrative Authentizität des
Bösen anmahnen. Es wäre eine vertrackte Erkenntnis, wenn nur das Böse seine
eigene Wahrheit beschreiben könnte, die uns Guten auf ewig verstellt ist.
Wie funktionieren eigentlich literarische Konstruktionen jenseits von
Geständnis und Selbstreflexion?
»Madame Bovary bin
ich!«
Flauberts Behauptung beschreibt eine identitäre Beziehung des Autors zu
seinen Geschöpfen, die über Rollenprosa weit hinaus geht. Doch zugleich
konnte er behaupten, eine völlig fiktive Geschichte zu erzählen. Dichtung
und Wahrheit könnten identische Zustände sein, wenn es um die Konstruktion
von Innenwelten geht. In der Tradition der introspektiven Durchleuchtung des
nachantiken Helden wie Antihelden gilt ein Roman dann als gut, wenn einem
Autor das paradoxe Kunststück gelingt, gottgleich noch in seine
abgründigsten Helden hineinzuschlüpfen, bis sie schließlich ein Eigenleben
selbst gegen den Willen ihres Schöpfers führen.
In einer Zeit, die der
egologischen Irritation »Ich
ist ein Anderer«
frönt, ist Identität aber eine fragile, wenn überhaupt noch zu rettende
Kategorie geworden. Versetzt sich Littell nun wirklich in die Seele seines
Protagonisten, wie es Flauberts Anverwandlung von Emma Bovary prätendiert?
Dr. Aue entsteht als ein multiples Mischwesen, dem in unzähligen
persönlichen und historischen Verstrickungen bestenfalls schizoide Züge
attestiert werden könnten. Mitleiden und Mitfühlen haben ihre Grenze in
einem abgeschlossenen Nervensystem, das eben bislang nicht telematisch mit
anderen Nervensystemen konnektierbar ist. In Zukunft könnte das Programm
einer psychologisch einfühlenden Literatur zu einer technische
Versuchsanordnung werden. Psychen könnten, wenn man den
»Bauplan
für eine Seele«
(Dietrich Dörner) für möglich hält, virtualisiert werden, was über die
moralische Qualität solcher Verfahren noch nichts sagt. Gegenwärtig bleibt
uns die experimentelle Seelenwanderung noch verwehrt. Innenwelten wurden
zwar oft konstruiert, auch die von beispiellosen Bösewichten, doch deren
Plausibilität war zuvörderst eine Glaubensangelegenheit. Dostojewski, der
Littell von diversen Kritikern immer wieder vorgehalten wird, hat sich in
die Abgründe verbrecherischer Psychen gestürzt.
»Nachtportier«,
ein Spielfilm der italienischen Regisseurin Liliana Cavani aus dem Jahr
1974, präsentierte den ehemaligen SS-Offizier Maximilian Theo Aldorfer, der
13 Jahre nach Kriegsende als Nachtportier in einem noblen Wiener Hotel
arbeitet. Die Wiederbegegnung mit der einstigen Lagerinsassin Lucia Atherton
wird in düsteren Überblendungen der sadomasochistischen Beziehung mit
traumatischen Bildern der KZ-Vergangenheit erzählt. Dieser Film wurde in
Italien zum Politikum, erst verboten, dann auf Druck von prominenten
Filmkünstlern freigegeben. Stein des Anstoßes war auch hier, dass dieser
Film die Geschehnisse zumindest teilweise aus der Perspektive des Täters
schildert und moralisch zweideutig ist.
Was also denkt und fühlt ein SS-Mann bei seinen Taten? In der Resonanz auf
den Roman Littells stört die simplizistische Unterscheidung, entweder eine
solche Psyche für darstellbar zu halten oder aber auf die Singularität und
Inkommensurabilität des Bösen zu verweisen. Das ist als zweiwertige Seelen-
wie Literaturtheorie zu wenig. Denn wenn historische Ereignisse auch
einzigartig und unwiederholbar sein mögen, erschließt sich das komplexe
Zusammenspiel vieler Faktoren, die für sich betrachtet alles andere als
magisch oder satanisch erscheinen, in dieser Feststellung nicht. Diverse
Kritiker suchten vergeblich nach der psychologischen Mutation des akademisch
gebildeten Aue in einen kalten Massenmörder. Einer der Hauptverteidiger des
Werks, Klaus Theweleit, sieht das richtig:
»Natürlich
funktioniert die 'Charakterstudie Max Aue' nicht; weil sie gar nicht
intendiert ist. Littell benutzt seinen 'Aue', um möglichst viele Facetten
des Nazireichs, des Krieges, der SS, der Vernichtungslager, der kalten
Gewalt, der sexualisierten Gewalt, der Bürokratie zu zeigen; er muss ihn
also 'multifunktional' anlegen, nicht charakterologisch.«
Diese Figur ist nichts anderes als ein Aleph des Schreckens, ein simultaner
Ort der Beobachtung, der - Jorge Luis Borges zufolge - alle anderen Orte
visualisiert. Der Widerstand gegen einen Charakter, der keiner ist, ist also
das Dilemma dieser Diskussion, die vielleicht dem Historikerstreit einen
Kritikerstreit zur Seite stellt und wie jener vorzugsweise im Streitstadium
verharren möchte.
Der
Führerbefehl als kategorischer Imperativ
Dr. Max
Aue wird als »Konglomerat
SS-Mann«
(Klaus Theweleit) zu einer Rollenzumutung. Das ist keine psychologische
Schilderung, sondern ein inkarnierter Eklektizismus, der die Kultur verrät,
auf die er sich beruft. Dass der Nationalsozialismus oft genug die
moralische Elastizität bürgerlicher Kultur vor Augen führte, konnte man
spätestens sei Heideggers Rektoratsrede am 27.05.1933 beobachten, als das
professorale Publikum die Zeremonie mit dem Absingen des Horst-Wessel-Liedes
krönte. Heidegger teilte einige Tage zuvor noch dem badischen
Kultusministerium mit, man müsse alles daran setzen
»um
die Welt der Gebildeten und Gelehrten für den neuen nationalsozialistischen
Geist zu erobern.«
Auch Littell zeigt, wie sich die Implementation des Geistes in den
nationalsozialistischen Kontext fast mühelos bewerkstelligen lässt.
Verkoppelt man die Kantische Pflichtethik mit dem Prinzip
»Führerworte
haben Gesetzeskraft«
gelangt man zu einem neuen, nicht weniger kategorischen Imperativ:
»Handle
so, dass der Führer, wenn er von deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses
Handeln billigen würde. Es gibt keinen Widerspruch zwischen diesem Prinzip
und dem kategorischen Imperativ.«
In diesem Gespräch Aues mit Eichmann wird die Anschlussfähigkeit der
moralischen Meisterphilosophie an den antirationalistischen Führerkult
demonstriert. Hier wird das Elend fundamental(istisch)er Begründungen offen
gelegt, die fatale Geschmeidigkeit, mit der sich hochmögende Ideen
rekombinieren lassen, um unbehelligt von ihren Ursprüngen zu gefährlichen
Überläufern zu werden. Dialektik der Aufklärung wie der Vernunft. Sind
Intellektuelle besonders korrumpierbar, was bei Dr. Max Aue zum Euphemismus
»weltanschauliche
Verwirrung«
heruntergefahren wird? Barbarisch daran ist, dass ihn nicht die Passivität
ob der Hohlheit seiner Ideologie einholt, sondern er weiterhin
aktionistisch, tödlich, final agiert.
»Die
tiefsten Motive der NS−Täter sind ein ungelöstes Geheimnis«,
meint Radisch in ihrer Demontage des Romans. Doch woher weiß sie das?
Literatur ersetzt keine Psychologie. Und selbst wenn Literatur als Surrogat
für wissenschaftliche Welterschließungen herhalten muss: Sind diese Psychen
so wertvoll, dass man nur in tiefsten Tiefen fündig würde? Nach Friedrich
Nietzsche darf man ohnehin nicht mehr von Tiefe sprechen, ohne die
platonisch-christliche Tradition zu verdächtigen, neue
»Hinterwelten«
zu propagieren.
Littells Werk ist kein so
großer Wurf, wie es die Preisverleihung und womöglich die Auflagenzahlen
signalisieren, aber es ist längst nicht literarisch illegitim, weil einigen
Kritikern andere Projektionen von SS-Männern
vorschweben oder Aue »eine
unbelebte Projektionsfläche«
(Oliver vom Hove) sei. Auch wenn Radisch das Buch unerträglich
findet, erkennt sie ein Problem, das Literatur als Medium der
Welterschließung immer weniger tauglich erschein lässt.
»Hier
liegt das größte Paradox des Romans: Wenn Autor und Erzähler der Ansicht
sind, dass der einzelne Mensch und sein Innenleben für die Erklärung der
deutschen Verbrechen bedeutungslos sind, dann ist ein Roman, der sich dieser
persönlichen Innenperspektive ganz und gar anvertraut, sinnlos. Dann müssen
Strukturzusammenhänge, Funktionsverläufe und Dokumente, nicht Seelen
untersucht werden.«
Dieses Dilemma ist eben kein Spezifikum der
»Wohlgesinnten«.
»Nur
durch fictio kann das factum, nur durch Einzelfälle das Unabzählbare
deutlich und unvergeßbar gemacht werden.«
Hier bringt Günther Anders bei seinem „»esuch
im Hades«
auf den Punkt, was Literatur vermag. Doch zugleich bezeichnet das auch ihre
Grenze, die in ausdifferenzierteren Gesellschaften immer deutlicher wird als
zuvor. Wenn die vormalige Zuständigkeit – etwa die eines Dostojewskis für
Verbrecherseelen – von anderen Wissenschaften vindiziert wird, wird
Literatur als Psychologie, als Geschichtswissenschaft, als Kriminalistik und
schließlich auch als Vergangenheitsbewältigung oder –befreiung ein dubioses
Unternehmen.
Leicht provoziert die
bedingt taugliche literarische Welterschließung den alten Widerwillen der
Gesellschaft, auf den Roland Barthes hingewiesen ist:
»Die
Gesellschaft wird niemals ein Schreiben anerkennen, das strukturell an das
Verbrechen und das Geschlecht gebunden ist.«
So wird Littell die »mangelhafte
Gestaltung«
vorgeworfen, Aue sei als »Charakter
und Schicksal nicht interessant zu finden«
(Oliver vom Hove). Hier regt sich der Widerwille gegen Figuren, deren
Widerwärtigkeit sich der Literatur entzieht, ähnlich wie die Moralmonster de
Sades, die nicht zugleich psychologisch und ästhetisch interessant
geschildert werden können. Sie bleiben unerträglich, so wie dieser Dr. Aue
unerträglich ist. Aber vernichtet das gänzlich den relativen Wahrheitswert
solcher narrativen Konstruktionen, der sich nicht auf die psychologische
Schlüssigkeit von Protagonisten verlässt? Hier gilt eine weitere Beobachtung
von Günther Anders: »Jeder
Gegenstand infiziert sich kategorial an der Welt, in die man ihn versetzt.«
Anders wäre auch diese erregte Diskussion über Littells Werk nicht zu
erklären, das barbarische Szenen präsentiert, die literarisch nicht
befriedet werden können. Die vorgebliche
»Erzählarmut«
(Wolf Scheller) wäre die Armseligkeit der realen Welt, ohne ihr den
pittoresken Glanz zu verleihen, den idiosynkratische Literaturkritik als ihr
ästhetisches Apriori benötigt, weil anders diese Welt nicht sein darf. Ginge
es lediglich um Erkenntnisse oder gar nur Erkenntnismöglichkeiten, würden
andere Diskussionen geführt, als sie gegenwärtig die Feuilletons erhitzen.
Vielleicht zeigt diese Erregung vornehmlich, dass Literatur kein ausreichend
komplexes Instrument mehr ist, um die Welt zu verstehen.
Es gibt einen Schrecken, der sich trotz seiner historischen Protokollierung
den Darstellungen der Literatur und gleichermaßen den Verständnishorizonten
der Literaturkritik entzieht. Dafür ist Jonathan Littell indes nicht haftbar
zu machen, so sehr es auch einige Kritiker erzürnt, im Widerstand gegen
dieses Werk auf die Aporien und Vorurteile ihrer eigenen Disziplin zu
stoßen. Goedart Palm
|
Jonathan Littell
Die Wohlgesinnten
Aus dem Französischen von Hainer Kober
Berlin Verlag
1388 Seiten
36 €. |