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Reader,
go home!
Eine
Leserbeschimpfung
von Goedart Palm
Es ist ein altes Vorurteil in schöner wie unschöner Literatur, daß Texte
für Leser geschrieben werden. Selbst Tausende Seiten Karl Kraus, die
dieses Vorurteil ein für alle Mal hätten erledigen sollen, haben wenig
in der narzißtischen Selbsteinschätzung von Lesern bewirkt, sich für
berechtigt zu halten, ihren Senf auf fremde Buchseiten zu schmieren.
Wir müssen allen Zynismus zusammen nehmen, um zu glauben, Homer,
Shakespeare oder gar Goethe hätten sich je für Leser interessiert. Weder
Odysseus, noch Hamlet oder Faust haben einen Beipackzettel, der den
Schnellkochtopf im Schwachstromleserhirn zum Kochen bringen könnte.
Verständnis bei Lesern erregen allenfalls Hieb-, Schlag-, und
Stichzeilen, wie etwa bei EXPRESS (19.05.2000): "Frau erwürgt
Kampfhund". Darunter kann sich der Leser wenigstens etwas vorstellen,
das rührt an sein Mitgefühl - für arme Kampfhunde, die wie er in einer
feindlichen Welt ums Überleben kämpfen müssen.
Lesers Paradies sind härteste Bandagen, auf dieser abgestumpften
Lederhaut müssen Kettensägen rotieren, um ein letztes Prickeln gegenüber
den allfälligen Katastrophen auszulösen. Was vermag dagegen ein Gedicht
von Rilke heute noch zu provozieren? Gar nichts! Wer ist überhaupt
Rilke? Küblböck ist das selbsterklärte Ende der Kultur – darauf eine
Talkshow für seine kleinen Freunde, die vermutlich Wörter für eine Art
des konzentrierten Rülpsens in einer sprachlosen Gesellschaft halten.
Damit sollte es sein Bewenden haben, der Leser seinen Offenbarungseid
gegenüber jeder Art alphabetischer Kultur ableisten und ohne über Los zu
gehen und 4.000 € einzuziehen, sich ab ins Disney-Land auf
Nimmerwiederlesen verziehen.
Stattdessen tun sich eifrige Leser zusammen, gibt es beflissene
Lesezirkel und kaffeegeschwängerte Leseecken beim Buchhändler.
Hugendubel dir eins. Zuvor meinte ein chauvinistischer Franzose, die
Deutschen täten sich zusammen, um ein Bonmot zu verstehen. Scheint nicht
viel gebracht zu haben, also gründen sie heute eine "community", in der
Sprache jederzeit "offtopic" ist. Heute schon yahoot? Gar existiert eine
"Stiftung Lesen" in Mainz, die Menschen, die vornehmlich BILD in
schönster Absicht kaufen, um ihr Frühstück nicht ohne Unterlage zu
verzehren, damit behelligt, schon Kinder zum Lesen wertvoller Literatur
zu verderben. Kinder, die heute noch lesen – man stelle sich das vor!
Deutschlands Kinder hungern, da hat die Kollwitz schon Recht, aber nicht
nach Lektüre, sondern nach LAN-Partys.
Surfen ist gut, aber Lesen zerstört auf Dauer den jungen Menschen, der
ein Menschenrecht auf Sony Playkonsole und Teletubbies hat. Wollt ihr
Kinder in Textwüsten hineinstoßen, deren letzte Oase der schnell
verzehrbare Klappentext sein mag? Ein ärztlich-literarischer Rat: Lesen
verdirbt nicht nur die Augen, sondern auch den natürlichen Verstand,
über die Dinge so oberflächlich zu urteilen, wie sie nun einmal sind.
Die Schöpferin der modernen Kultur ist Lieschen Müller und wer das nicht
sofort zugibt, soll meinetwegen jetzt lesen, aber hinterher für alle
Zeit schweigen.
Käufer sind gut, aber Leser sind so überflüssig wie skandinavische
Handyfahrer auf dem Mond. Bestsellerlisten machen das sofort klar.
Selbstverständlich hat niemand Umberto Ecos Multiseller "Der Name der
Rose" gelesen, weil dieses mittelalterliche Selbstgespräch des Autors
für Leser viel zu anstrengend ist. Dieser Wälzer ist gräulich langweilig
– aber: gekauft, gekauft wurde die "Rose", weil Bücherregale schmuck
aussehen sollen und mehr literarischer Verstand bringt ohnehin kein
Leser auf, als ungelesene Schwarten nach Größe und Einbandfarbe seinem "Ikea-Billy"
zu überantworten. Später kommt dann der Flohmarkt oder der gnädige
Altpapiertag, um den Bildungsmüll seiner wahren Bestimmung gemäß zu
entsorgen.
Der Leser ist mit- und schlechthin das Nullum in der Literatur und je
besser ein Text ist, umso nichtiger ist der Leser. Der Autor schreibt
den Text, um sich von seiner eigenen Unsterblichkeit zu überzeugen und
das Quacken in den Tümpeln der Blätterwälder, des Netzes und anderswo
wohl- und selbstgefällig zu übertönen. Der Leser ist dagegen das
überflüssigste Glied in der Kristallisation des Textes. Der Leser, diese
träge Diva mit der Intellektualität eines aufgescheuchten Moorhuhns und
der Sensibilität eines abgesoffenen Johnny Walkers, stolpert über jede
Textmarke, die seinem 1000-Wörterschatz zuwiderläuft.
Aber es kommt noch schlimmer. Anstatt sich zu schämen und einen
virtuellen Volkshochschulkurs "Deutsch für bloody beginners" unter der
email-Adresse "karl@tumb" zu belegen, wagen es immer wieder einige der
unverfrorensten Leser, Redaktionen und Autoren mit ihren unbedarften
Zuschriften zu behelligen. Spam. Spammer. Am Spammsten. Die dümmste
aller Kritiken ist der Kommentar, der keiner ist, der Text sei zu lang.
Lektüren sind wohlverdiente Spießrutenläufe und die Gasse der
Volkserziehung kann für die Nachwuchsanalphabeten gar nicht lang genug
sein, um ihre eigene Bedeutungslosigkeit Satz für Satz, besser noch:
Wort für Wort, unter allfälligen Beweis zu stellen bzw. ihnen auf den
bornierten Rücken zu brennen. Die zweitdümmste aller Zuschriften ist das
Eingeständnis, der Autor gebrauche Fremdwörter, die er, der Leser, ohne
ein Glossar, das so lang wie die Encyclopedia Britannica sein müsste,
nicht verstehen könne.
Auch mich zwickt mein unvollkommener Verstand hier und da und dort, aber
wenigstens versuche ich notdürftig und schamhaft in einer auch mir
unverständlichen Terminologie zu kaschieren, dass ich diese Welt schon
lange nicht mehr begreife. Ganz anders Leser, die ihren Unverstand zu
Markte tragen, sich öffentlich damit brüsten und noch auf Beifall
rechnen, wo ihnen längst die Kritik der reinen Unvernunft um die Ohren
gehauen werden müsste.
Also wenn du nach alldem immer noch Leser sein willst, was ist zu tun?
Der wohlerzogene Leser sollte seinen Autor vor der Welt und den Menschen
loben und preisen. Aber um Gottes Willen erspar dem Autor deine Lektüre.
Das hält der schlechteste Text auf Dauer nicht aus. Und um Menschen
Willen, lass den Autor in Ruhe. Der hat sich auf Wesentliches zu
konzentrieren und könnte Lesers junkmail nicht mal für eine
Textabfallcollage brauchen. Geldspenden oder Naturalgeschenke wären
dagegen zulässig, um Buße für die eigene Ignoranz zu tun. Mag dann sein,
daß aus dem literarischen Olymp hin und wieder ein Blitz auf den
masochistischen Leser niederfährt, der sich dann wohlig winden mag.
Winke winke, lieber Leser – und untersteh´ dich, einen Kommentar zu
diesem Text abzusetzen. Dafür interessiert sich im Abgesang der
abendländischen Kultur ohnehin niemand mehr und deine freegmxhotwebmails
gehen mir an der Feder vorbei.
Goedart Palm |
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