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Ein
Funken Hoffnung
Zum 5. Todestag von Aleksandar Tišma
erinnert
Lothar Struck an den serbischen Autor
Irgendwann Ende der 90er Jahre, in der Adventszeit, las Aleksandar Tišma in
Essen aus »Kapo« vor. Mit wachsender Zeit liess seine Konzentration auf die
für ihn dann doch etwas ungewohnte deutsche Sprache nach; er versprach sich
gegen Ende mehrfach. Bei der nachfolgenden Diskussion zeigte sich Tišma aber
wieder wach; höflich und humorvoll. Er wurde natürlich auch darauf
angesprochen, warum er nicht mehr schreibe, was er damit erklärte, dass er
über alles geschrieben habe,
was ihn bewegte. Natürlich fragte man sich, ob die Vorgänge im ehemaligen
Jugoslawien nicht erneut Anlass gegeben hätten.
Aber
liest man seine Werke genau, und berücksichtigte man sein damaliges Alter,
so offenbart sich dieses Schreibende plötzlich als vollkommen klar: Tišma
war wohl traumatisiert. In so vielen seiner Bücher taucht dieses Bild der
Leichen in der Donau bei Novi Sad auf – Opfer eines (oder mehrerer)
Massaker(s), verübt von denjenigen, die vorher Opfer gewesen waren. Tišma
war beseelt von den Geschichten dieser Menschen, deren Verbrechen und
Grosstaten zu erzählen. Vielleicht war Tišma der letzte Tragödiendichter des
20. Jahrhunderts. Bis auf
»Die
wir lieben«
sind alle seine Romane und Erzählungen auch Selbstvergewisserungen; fast
therapeutisch anmutende Versuche, das Unverstehbare zu begreifen.
Tišmas Schreibfuror war
weniger Besessenheit (wenigstens nicht ausschliesslich), sondern Akribie.
Nochmals und nochmals und nochmals wollte er die Hintergründe, das den
Menschen so fürchterlich machende, hervorheben; jedesmal wählte er hierzu
eine andere Perspektive: mal einen ganzen Schwarm von Hauptfiguren, mal eine
Familie, mal Einzelpersonen, die später in (unheilvolle) Verstrickungen
eintreten. Und der Mitte des Hurrikans, dort wo am ruhigsten sein soll, fast
ohnmächtig, seine Protagonisten, wartend auf – ja, auf was? Auf das
Schicksal? Auf eine – unsichtbare, weil unerklärte – Erfüllung eines
Orakelspruchs?
In
»Kapo«
ist es der katholisch getaufte Jude Lamian, der im Lager Auschwitz als Kapo
Furfa ein »Überlebensprogramm«
für sich selber etabliert (etablieren darf); einen regen Handel zwischen
Häftlingen und der SS, um nicht selber, aus einer Laune heraus vernichtet zu
werden. Hier (und nur hier) entwickelt er eine fast unglaubliche Kreativität
im Abhängigmachen von und mit anderen. Er spinnt ein feines Vorteilsnetz,
bis hin zum »Zuteilen«
von jungen Häftlingsmädchen, die sich ihm nackt gegen Brotbissen und Milch
hinzugeben haben.
Niemals richtet Tišma das
Verhalten seiner Figuren. Aber Lamian holt seine Geschichte ein, als er
eines Tages eine Zeitung in einem Bus findet, mit dem Namen einer der
Mädchen, die er damals so entwürdigend beschlafen hatte. Von nun an lässt
ihn dieses Handeln, jahrzehntelang
»verdrängt«,
nicht mehr los. Überall wittert er jetzt Jäger, die ihn heute, vierzig Jahre
danach, zu überführen trachten. Alles Gesehene, Gefühlte bringt er in Bezug
auf das Lagerleben; jede Alltäglichkeit ruft sofort eine Assoziation aus dem
Lager hervor, die hängenden Brüste einer Frau, der Blick eines Mannes, das
Sonnenlicht durch ein Fenster. Meisterhaft versteht es Tišma (in der
auktorialen Perspektive) die Nöte, die Qualen und die paranoischen
Seelenzustände Lamians zu erzählen, für den Leser fassbar zu machen.
Lamian
holt über diese Frau, die Helena Lifka heisst, Erkundigungen ein; er
erfährt, dass sie in Zagreb lebt. Er fällt in eine tiefe Lebenskrise,
verlottert, geht nicht mehr aus dem Haus, lässt sich pensionieren, denkt an
Selbsttötung. Endlich rafft er sich zur Reise nach Zagreb auf. Dort glaubt
er die Frau gesehen zu haben, verfolgt sie, beobachtet sie beim Einkaufen,
mutmasst über ihren Alltag. Am nächsten Tag besucht er sie, stellt fest,
dass es Helena Lifkas Cousine ist und dass sie, der ehemalige Häftling, vor
einem halben Jahr an Krebs verstorben sei. Lamians Idee, eine irgendwie
geartete Vergebung oder nur Zuwendung ob einer Aussprache zu erhalten,
zerbricht. Und abermals gibt es in Lamians Leben eine niemals mehr
zurückzuholende Chance, sich mit jemandem über seine Vergangenheit
auszusprechen, wie damals nach dem Kriege mit jedem jüdischen Richter,
dessen Freundschaft er aus Angst so verschmähte und erst nach seinem
plötzlichen Tode schmerzte die verpasste Möglichkeit.
Diese Verzweiflung an
sich selbst, dieses wilde Assoziieren und niemals mehr wegkommen vom
Gewesenen, den Sog der Vergeblichkeit – das konnte Tišma meisterhaft
erzählen. In den besten Momenten erinnert
»Kapo«
an seine brillanten Erzählungen (»Die
Schule der Gottlosigkeit«,
in denen er auf knappem Raum grosse Intensität entstehen lässt (und
vermutlich einer der grössten Meisterleistungen der Literatur, wie Tišma die
Gedankengänge eines Mannes erzählt, der am Vorabend seiner Deportation in
seiner Wohnung sitzt; der letzte Abend in Freiheit und wie hypnotisiert
seinem Los ergeben).
Niemals
verfiel Tišma in die Versuchung des billigen Moralisierens. Die einfache
Gleichung »Täter
= böse - Opfer = gut«
gab es bei ihm nicht. Kroatische Ustascha metzeln Serben nieder und die
»Rache«
der Serben (einiger Serben) im Kommunismus; ein jüdischer Kapo verdingt sich
um jeden Preis; das Kind des brutalen Folterknechts überlebt eine
lebensgefährliche Infektion, just in dem Moment er seinen Delinquent
ermordet. Niemals geht es
»gerecht«
zu. Und niemand verlässt bei Tišma die Bühne geläutert oder erlöst - das
Überleben schafft noch keine Befreiung mehr; nein, es verschafft - im
Gegenteil - oft genug fürchterliche Qualen.
Zwischen den Zeilen sieht
man in »Kapo«
(einem Buch, das 1987 erstveröffentlichte wurde) das Aufziehen der neuen
(alten) Probleme Jugoslawiens hervorkommen und es ist deutlich anzumerken,
wie dies dem Autor geschmerzt haben muss. Und dieses Thema - immer wieder in
den Tišma-Büchern vorhanden - kollidiert mit einem anderen, grossen Thema
dieses Autors: der Unausweichlichkeit des menschlichen Schicksals. Tišmas
Denken war zwar nicht griechisch, d. h. er vertrat nicht die These, dass
sozusagen ein bestimmtes Schicksal jedem Menschen unabhängig von seinem
späteren Handeln zugeordnet ist (von oberer Instanz etwa), aber dem
Schicksal, welches der Menschheit in einer bestimmten Epoche befällt, diesem
Schicksal kann der Mensch ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr entrinnen,
nein: er schreibt es sogar fort. Bei Tišma waren die Figuren nie nur
Getriebene, sondern auch Treiber, und sei es, sich zu ergeben. Sind
sie klug oder können reagieren, so werden sie (scheinbar) zu
Überlebenskünstlern. Aber es befreit eben nicht mehr. Bei aller Technik des
blossen, physischen Überlebens: innerlich waren seine Helden ausgelaugt,
verbittert, mutlos. Kurz: es ist keine Rettung möglich, zu keiner Zeit;
mindestens keine irdische (über anderes schwieg Tišma).
Diese Ausweglosigkeit
lässt Tišmas Bücher gelegentlich finster, negativ erscheinen. Aber hinter
all dieser Trübnis funkelt - sehr gut versteckt - der Gedanke der
Möglichkeit, die menschliche Geschichte anders zu gestalten, als in den
gehabten Mustern. Aber das war nicht Tišmas Thema und Genre. Er verstand
sich als poetischer Chronist; sein Glaube an das Erzählen (mag es auch
Selbsttherapie sein und Selbst-Teufelsaustreibung) verrät aber das Fünkchen
Hoffnung.
Am 16. Februar 2003, vor
fünf Jahren, ist dieser grosse Dichter Aleksandar Tišma gestorben. Tišma war
auch ein Heimatdichter (freilich nicht im verkitschten Sinn); ein Dichter
der Stadt von Novi Sad, der Vojvodina und natürlich von Jugoslawien. Den
Literaturnobelpreis hat er leider nicht bekommen; auf der
»Liste«
stand er wohl, wie es heisst. Zugegeben kein Lesefutter, aber seine Bücher
strahlen, leuchten. Erleuchten. Lothar Struck
|
Aleksandar Tisma wurde 1924 im
ehemaligen Jugoslawien geboren und wuchs in Novi Sad auf. 1944 trat er in
die jugoslawische Befreiungsarmee ein. Nach dem Krieg arbeitete er als
Journalist und Verlagslektor. Er verstarb am 16. Februar 2003 im Alter von
79 Jahren in Novi Sad.
Aleksandar Tišma
Kapo
Roman
Hanser Verlag
ISBN-10: 3-446-19134-8
ISBN-13: 978-3-446-19134-1
Die wir lieben
Roman
Hanser Verlag
ISBN-10: 3-446-17823-6
ISBN-13: 978-3-446-17823-6
Das Buch Blam
Roman
Hanser Verlag
ISBN-10: 3-446-17822-8
ISBN-13: 978-3-446-17822-9
Ohne einen Schrei
Erzählungen
Hanser Verlag
ISBN-10: 3-446-19981-0
ISBN-13: 978-3-446-19981-1
Reise in mein vergessenes Ich
Tagebuch 1942-1951.
Meridiane Mitteleuropas
Hanser Verlag
ISBN-10: 3-446-20359-1
ISBN-13: 978-3-446-20359-4
Tišma, Aleksandar
Die Schule der Gottlosigkeit
Erzählungen
Aus dem Serbischen von Barbara Antkowiak
dtv
160 Seiten
ISBN 978-3-423-12138-5
Euro 9,00 |