Jan Berning

Dunkel bis postmodern

In seinem Roman „Die dunkle Seite des Mondes“ spielt Martin Suter mit Drogendiskursen und psychologischem Wissen


Alleskleber

Dass die Mehrheit der Leser keine Zeit hat, ihr Wissen aus Forschungsliteratur zusammenzuklauben und Bücher wie „Die dunkle Seite des Mondes“ auch nutzt, um den eigenen Bildungsvorrat aufzufüllen, kümmert Suter kaum. Ohne Skrupel lässt er Seelenquacksalber Wenger allerlei Märchen aus der Psychogerüchteküche auffahren, von denen sich das schönste um das „Unterbewusstsein“ dreht: „Du hast nach dem Trip die Einsicht gewonnen, dass es nichts gibt, außer dir selbst. Und dieser Einsicht entsprechend verhält sich dein Unterbewusstsein.“ Laut medizinischem Fachbuch ist das Unterbewusstsein ein durch Freud anfangs falsch benanntes, bald von ihm revidiertes Gespenst, das seitdem als Schatten durch die allgemeine Halbwissen-Psychologie geistert. „Unbewusstes“ heißt es korrekt bei Freud, und diese unbewussten Gedanken und Triebe zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht bewusst und sicher nicht durch eine Einsicht gewonnen sind. Suter verwendet den Begriff munter als magischen Alleskleber, wo sein Psycho-Drogen-Kartenhaus zusammenzubrechen droht: „Dass das Unsinn war, war ihm klar, aber der Unsinn hatte sich tief in seinem Unterbewusstsein festgesetzt und funkte von dort aus in sein Bewusstsein.“ Zwischen unbewusst und bewusst schwebt dieses Gespenst eines Unterbewusstseins durch seinen Geist, verhält sich irgendwie, sendet irgendwelche Signale aus, steuert irgendwelche Handlungen, beraubt ihn seines Gewissens und lauert tief im Inneren darauf, Kontrolle über Blanks schwachen Willen zu erlangen, wann immer sich die Gelegenheit bietet.

Horror

Dass das Unbewusste aber in der Lage ist, wegen eines falschen Pilzes einen unauffälligen Saubermann in einen Teilzeitpsychopathen zu verwandeln, wie das bei Suter geschieht, ist wenig glaubwürdig, auch wenn Suter das Kunststück schafft, es glaubwürdig darzustellen. Psychopathen nennen wir Menschen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung, bei der dem Patienten die Fähigkeit zur Angst fehlt – sie ist von Geburt an in seinem Charakter enthalten. Diese Persönlichkeitsstörung tritt also nicht, wie die Psychose, spontan oder durch Drogen induziert auf, sondern zeigt sich schon im Kindesalter. Der Sutersche Psychopath dagegen, ist eine Gestalt, die eher in Stephen King-Welten gehört, als in eine reale therapeutischen Praxis: einer der normal denkt, normal fühlt, nebenbei ein paar Leute umbringt.

Rausch

Immerhin: Den Rausch, den Suter beschreibt, kann man ihm abkaufen. Nimmt man mehr als 20 mg Psilocybin zu sich, kann das zu einer Isolierung von der Umgebung führen. Das Gefühl alleine auf der Welt zu existieren, auf magische Weise die Formen der Umwelt kontrollieren zu können, wird in Forschung und Drogenforen bestätigt. Auch können unter Einfluss von Halluzinogenen psychotische Zustände auftreten und latent vorhandene Psychosen und Störungen des Ich-Bewusstseins ausgelöst werden. Liest man aber Schilderungen von Psychosen, wie in Thomas Melles Kurzgeschichte „Dinosaurier in Ägypten“, fällt auf, dass die Wahrnehmungsstörungen, Halluzinationen, das Gefühl, verfolgt oder beobachtet zu werden, Gedanken eingegeben oder entzogen zu bekommen, ein dauerhafter Zustand ist, der sich ganz mit der Wahrnehmung verschränkt. Für Melles Protagonisten ist alles ein Symbol, alles bedeutet alles, er findet sich in einer komplexen Alltagswelt der Informationsfülle nicht mehr zurecht, fängt an, Leute zu belästigen, Flugblätter zu verteilen. Auch Blank fällt durch exzentrisches Verhalten und bizarre Ideen auf, aber nur in Stressmomenten und auch nur mit einer kleinen Auswahl der Symptome. Er ist sich des „Unsinns“, den er denkt und tut, bewusst, was in einer wirklichen Psychose selten der Fall ist. Während Melle scheinbar das Innenleben eines Schizophrenie-Patienten abbilden will, ist die Erkrankung bei Suter Mittel zum Zweck, um eine spannende Geschichte zu konstruieren. Er verwendet die Fachliteratur als Wühlkiste, schmückt seine Geschichte mit den bizarrsten Fundstücken aus und überlässt den Leser mit dem Eindruck von Wissensgewinn sich selbst.

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Copyright © Jan Berning – Apr 15, 2008