Seite 1 2 Toss me a fuckin’ cigarette, for gaining mere sublime!Erste Kolumne, die waghalsig über Eltern einsteigt, die keine polnischen Bergbauern oder eine ähnlich mehrheitsfähige Minderheit sind, und die außerdem Paul Simon mit dem „Prinzip Amber“ konfrontiert Meine Eltern verbrachten die Jahre 1975 bis 2005 hinter einer grünen Tür, auf die der Satz „Hier darf geraucht werden“ appliziert war. Sie und 30 weitere Studienräte folgten der Aufforderung mit Verve, so viel Verve, dass sich 1998 eine Siebtklässlerin auf ein Libretto der Dreigroschenoper erbrach, dessen Klassensatz zu lange im Raucherzimmer gelagert hatte. Eine deutlich magischere Verbindung von Poesie und Rauchen ergab sich 30 Jahre früher, als Paul Simon im Song America seine Reisegefährtin Kathy aufforderte, ihm eine Zigarette aus seinem Regenmantel zu reichen. Suchtgestützte Interaktion führte da direkt in die Welt jener für immer flüchtigen Zwischenmomente, die der Erfinder der modernen 8,5 cm-Standardzigarette im Kopf gehabt haben muss. Denkt man die Zigarette weg, hätten Kathy und Paul einfach dagesessen, und das ist zu zweit immer problematisch: Beide hätten die Situation irgendwie gut gefunden, hätten aber das unkomfortable Gefühl gehabt, etwas sagen zu müssen. Kathy hätte gedacht: "Ich würde ihn gerne nochmal nach seiner jüdischen Herkunft fragen, aber in fünf Minuten kommt der Bus." Paul hätte gedacht: "Ich würde ihr gerne sagen, dass ich für sie seit zwei Jahren ein konstant warmes Gefühl empfinde, aber nie ein richtig heißes, und ich frage mich gerade, ob das der Unterschied zwischen Verliebtsein und Liebe ist, aber in fünf Minuten kommt der Bus." Kathy hätte Paul dann gefragt, woran er gerade denkt, und er hätte gesagt: "Weißt du, ich frage mich gerade, ob die Existentialisten so was hier mit dem perfekten Moment gemeint haben.", und sie hätte gedacht "Hachgottchen, jetzt geht das wieder los.", aber gesagt hätte sie "Maybe!" und er hätte gedacht "Ein bisschen schwungvollere Zustimmung wäre schon schön.", und dann wäre der Bus gekommen. Ganz anders mit Zigaretten: „So I looked at the scenery, she read her magazines, and moon rose over an open field.” Wer da nicht Raucher sein will, ist kein Mensch. Menschen werden aber leider rar. Es wäre schwer, heute in Amerika eine Kathy zu finden, zu der man aus der Erhabenheit eines gemeinsamen Lebenstaktes „We smoked the last one an hour ago“ sagen könnte. Man hätte heute nur die Wahl zwischen zwei Typen von Nichtraucherinnen: Einem Mäuschen in bunten Romika-Stiefeln und Leggins, nennen wir sie ruhig Amber, und einer überspannten Veganerin mit einem Urban Studies-Diplom der UC Berkeley, nennen wir sie ruhig auch Amber. Man versucht es bei beiden wie einst Paul Simon: „Toss me a cigarette, I think there’s one in my raincoat.“ Amber I rümpft das Näschen, reicht aber gelangweilt etwas herüber, und zwar gleich den ganzen Mantel. Amber II rührt keinen Finger. Sie joggt zweimal wöchentlich mit Judith Butler in den Berkeley Hills und sieht das gar nicht ein. Da sie auch popkulturell geschult ist, spielt sie stattdessen verfälschte Paraphrase: „You smoked the last one an hour ago, right?“ Beide Amber-Situationen sind unbefriedigend: Entweder man wühlt neben der personifizierten Ignoranz einsam im Ölzeug, oder man muss sich rechtfertigen. Wie aber soll man sich rechtfertigen, in einer Welt, die die Zigarette in den Status eines nervösen Ticks herunterproletarisiert hat? Da muss man dann schon „Baudelaire ...“ sagen, weil „Baudelaire ...“, neben „Benjamin ...“, „Lacan ...“ und „Zizek ...“, als einzige Fügung in US-Academia keinen Widerspruch duldet. Als der Cornell-Romanist und Derrida-Exeget Richard Klein anno 1993 „Baudelaire ...“ sagte, wurde das gleich in 15 Sprachen übersetzt, das Original Cigarettes are sublime ist noch heute eines der Top-5-Coffetable-Books unter progressiv frisierten Jungakademikern in dem Land, das - jaja - immer auch sein eigenes Gegenteil ist. Seite 1 2 Copyright © Johannes Schneider – Apr 15, 2008 |
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