6.-9.6.2017 – aufgebrochen

6.6.2017

Geträumtes steht auch hier, wie in meinen Tagebüchern, immer rechts:

Ich erzähle einem, der mich noch nicht kennt, von meinem Leben.
Es ist eine lange Geschichte, und er hört geduldig und aufmerksam zu.
Dann habe ich ein Foto in der Hand von meinen beiden Mädchen,
sie sind schon groß, aber noch jung, und sie lachen in die Kamera.
Ich zeige es ihm, sage: und jetzt noch dies.
Er weiß noch nicht, wie meine Große gestorben ist.

Sie ist aus dem 17. Stockwerk vom Hochhaus gesprungen. Aus dem Traum in diesen Text: ohnesinn.
Ich habe mich immer wieder gefragt, wann es dran ist. Ist heute der Tag, um davon zu berichten? Dass sie 29 Jahre alt geworden ist.
Und dass es ein Buch gibt, es heißt: aufgebrochen oder warum Ouagadougou
Dort erzähle ich, wie ich unsere Geschichte bis dahin – 2001 – verstanden habe.

Hier nur der Anfang und das Ende, das Ganze werde ich mit ohnesinn dem www anvertrauen.
Mit ohne Butter das Brot, mit ohne Soße die Kartoffeln – sie war vier, als sie so redete. Mit ohne Sinn.

                                                                                   Juli 2000                

                                mein Mond

Sie sind gegangen. Ich bin geblieben. Sie kommen wieder.
Ich kann ruhig sein.
Die Ränder des Tages werden nicht auf mich stürzen.
Wäre es das: mit den Menschen leben und ruhig schlafen.

Im Schatten der Blätter des Pflaumenbaums fange ich an,
erste Sätze zu schreiben gegen die Stille.
Ist ein Mensch einsam auf dem Mond, wo es keinen Menschen gibt?
Mein Mond liegt hinter der Einsamkeit.

Wieder einmal habe ich die Hoffnung, daß mein Ort dauern möge,
bis ich alles erzählt habe und ich es gehen lassen kann,
das Buch, das mein Kind einhüllen soll wie ein Leichentuch,
damit ich es in die Erde legen kann.

So lange darf ich mich nicht bewegen.
                                                                                 
                                                                                      Juli 2001

Das Tuch ist fertig.
Es hatte meine ganze Liebe, meine größte Sorgfalt und tiefste Zärtlichkeit.
Die Fäden sind verknotet. Ich decke sie zu.
Mehr kann ich nicht für sie tun.
Ins Laken des Todes gewickelt zu werden, das ist das Glück.
Sagen die Indianer.

Mir musste es helfen zu weinen und die Tränen zu trocknen.
Es hat mir die Knie gewärmt und den Schoß.
Die Lebenden müssen sich die Kraft der Toten anverwandeln,
sonst hätte deren Leben keinen Sinn gehabt.
Sagen die Afrikaner.

Wenn ich das Buch nicht mehr habe, was bleibt mir dann noch.
Mit ihm hatte ich immer noch etwas zum Anfassen,
An-mich-Drücken, Festhalten und Loslassen.
Als könnte ich sie noch einmal an mich drücken.
Nicht rund und warm. Nicht warm und nicht kalt.
Wohin werde ich mich wenden mit meiner Liebe, meiner Sorgfalt, meiner Zärtlichkeit.
Mit den Menschen leben und ruhig schlafen.

Tuaregnomaden in der Tenere, dem Land der Leere, vergraben ihre Toten mit allem, was ihnen gehörte, in den Sand.
Dann verlassen sie aus Angst vor den Geistern des Verstorbenen diesen Ort, um nie wieder dorthin zurückzukehren.
                                                                                                          

7.6.2017

Regentropfen sind Sterne
in meinen Ohren

Wann rufe ich Paul an, um zu hören, dass er meine Post bekommen hat? Es ist auch die Sorge dabei, er könnte sie nicht mehr –
Wegen der Feiertage hat sie so lange im Dorfbriefkasten gelegen und aufs Ausgetragenwerden warten müssen. Ach, Paulchen – Zärtlichkeit der Ostpreußen. Statt lieber Paul: Paulchen.
Als ich bei Paul am Bettrand saß und seine Hand hielt, ist mir das so rausgerutscht, und ich habe dem zweimal Geflüchteten erzählt, woher das kommt. Er hat genickt und geschmunzelt, und ich habe weiter erzählt, dass sie bei uns auch sagten: das Sonnchen, das Mondchen, wenn sie sich gerade über die gefreut haben. Wie gestern, als es auf einmal hell wurde, weil der Mond überraschend aus den Wolken kam, und ich zu Yalla sagte: schau, das Mondchen!
Morgen rufe ich ihn an.

Israel feiert ein Jubiläum: 50 Jahre Besatzung seit dem Sieg nach sechs Tagen Krieg.
Ob da gefeiert wird wie am Unabhängigkeitstag? Die Schläge mit dem Gummihammer auf den Kopf. Das war: Jerusalem – tot oder lebendig.
Dort sind die Kinder der Siedler schon mit 13, 14 Jahren mit geschulterten Gewehren in der Stadt herumgelaufen.

Zwischen töten und sterben ein Drittes: leben. (geklaut)
Aber wo.

Noch immer nicht gefunden.

8.6.2017

Paul nimmt keinen Anruf an. Seine konservierte Stimme sagt mir, dass ich es später noch einmal versuchen soll.

Als ich mit einer Vertrauten, die auch mit den Übergängen sehr vertraut ist, davon spreche, wie meine Große in den Text – sie hat alles gelesen – gekommen ist, bekommt sie eine Gänsehaut. H. ist da und ruft ihr zu: „Und die hab ich mir ausgesucht!“ Mich. Mir hat sie ihr schweres Leben anvertraut. Mein großes Mädchen. Es ist Liebe.

9.6.2017

Heute Nachmittag ist der Mond rund.


Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de