Zerstörte Idylle
Abraham Teitelbaum schildert das jüdische Leben in Warschau um 1900
Von Karl-Josef Müller
Warschauer Höfe, Menschen und Begebenheiten, so lautet der Originaltitel des Buches von Abraham Teitelbaum, das seit kurzem in deutscher Übersetzung unter dem Titel Warschauer Innenhöfe. Jüdisches Leben um 1900 vorliegt. Der ursprüngliche Titel lautet Varshever heyf: Mentshn un gesheenishn, allerdings kann auch diese Variante nicht als Original gelten, wurde das Buch doch 1947 in jiddischer Sprache und hebräischen Schriftzeichen veröffentlicht. Übersetzungen sind immer sprachliche Hilfskonstruktionen. Sie können sich aber auch, wenn sie gelungen sind, als Meisterwerke erweisen. Um ein solches handelt es sich bei der Übertragung von Daniel Wartenberg.
Das Buch lässt sich in drei Teile untergliedern, auch wenn der erste Teil mit dem Titel „Vorwort des Autors“ lediglich zwei Seiten einnimmt. Mit wenigen Sätzen beschwört Teitelbaum hier den unvorstellbaren Wandel der Orte, die er auf den folgenden gut 200 Buchseiten beschreiben wird: „Einst Festungen von tief verwurzeltem, durch viele Geschlechter aufgebautem jüdischen Leben. In unserer Zeit wurden sie in Schlachthäuser verwandelt, in denen Juden den Märtyrertod fanden und so den göttlichen Namen heiligten.“
Bemerkenswert ist, dass Teitelbaum lediglich im Vorwort auf „die Gaskammern der Nazis“zu sprechen kommt. Seine anschließende Schilderung des jüdischen Lebens in Warschau gewinnt enorm an Eigenwert, weil er seinen Blick ausschließlich auf diese Zeit konzentriert und sie nicht als bloße Etappe hin zur Vernichtung schildert.
Die ersten 100 Seiten des Buches lassen sich ganz im Sinne des Dichters Jean Paul als Idylle lesen. Eine Idylle sei, führt Paul in der Vorschule der Ästhetik (1804) aus, die „epische Darstellung des ‚Vollglücks in der Beschränkung‘“. Und weiter: „Die Beschränkung in der Idylle kann sich bald auf die der Güter, bald der Einsichten, bald des Standes, bald aller zugleich“ beziehen. Die Idylle fordere die „hellsten örtlichen Farben nicht nur für Landschaft, auch für Lage, Stand, Charakter.“ Weiterhin gilt „daß die Idylle als ein Vollglück der Beschränkung die Menge der Mitspieler und die Gewalt der großen Staatsräder“ ausschließt.
Es ist wahrlich ein so kleines wie scheinbar ungestörtes und geschütztes Glück, das die Jugenderinnerungen Teitelbaums kennzeichnet. Bevölkert wird diese Idylle nahezu ausschließlich von den sogenannten kleinen Leuten, einfachen Menschen mit einfachen Berufen, in denen sie sich dennoch geborgen fühlen.
Reb Elje führt eine Chejder, also eine Religionsschule, die der orthodox aufwachsende Erzähler Teitelbaum gerne besucht. Gleichzeitig ist Reb Elje während seines Unterrichts als „Beutelmacher“ tätig: „Höchstwahrscheinlich brachte ihm die Lehrtätigkeit in seinem kleinen Chejder trotz der großen Anzahl an Schülern nicht genug ein, um davon leben zu können.“ Ausführlich beschreibt Teitelbaum die Einzelheiten der Tüten-Produktion, um schließlich zusammenzufassen, wie all das zu damaliger Zeit auf ihn als Kind gewirkt hat:
Es war einfach faszinierend, ihn ruhig und in Gedanken versunken dort stehen zu sehen, wie er mit seinen Händen Tüte um Tüte faltete und klebte und gleichzeitig mit seiner heiteren Stimme den Lernstoff im Singsang durchging und mit gefühlvollem Blick eine Begebenheit oder auch längere Episode aus der Bibel erklärte, wie zum Beispiel die Textstelle über die Leiter, auf der unser Vater Jakob im Traum die Engel in den Himmel hinauf- und wieder auf die Erde herabsteigen sah, oder den Abschnitt, in dem Josef gleich nach dem Pharao zum Herrscher über Ägypten ernannt wurde. Und am anderen Tischchen glänzten die Augen der Jungen, die mit vibrierenden Stimmen die rührenden Geschichten nachsangen.
In diesem Abschnitt kommt alles zusammen, was den zweiten Teil des Textes ausmacht. Gibt es eine einfachere Tätigkeit als die, Tüten zu kleben? Wohl kaum, aber Teitelbaum umgibt sie mit einer geradezu meditativen Aura. Das ist wahrlich ein „Vollglück in der Beschränkung“ – alle Beteiligten gehen in ihrem Tun voller Hingabe auf und wirken wunschlos glücklich.
Teitelbaum verehrt seine Mutter und ist damit nicht alleine: „Alle hielten sie für eine wundervolle Frau.“Sie liest leidenschaftlich gerne, selbst Bücher, die sie als „streng religiös“ lebende Frau eigentlich meiden müsste. Unter dieser Lektüre befindet sich auch der Roman Hauptmann Dreyfus, verfasst von dem Schriftsteller Nachum M. Schaikewitsch. Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Schaikewitsch sich in diesem Roman mit dem Schicksal von Alfred Dreyfus beschäftigt.
1894 wurde der französische Hauptmann Alfred Dreyfus wegen angeblichen Landesverrates verhaftet und anschließend verurteilt. Zu Unrecht, wie sich schließlich herausstellen sollte. 1898 erregte Émile Zola mit seinem offenen Brief J’accuse enorme Aufmerksamkeit. Zola stellte sich darin entschieden auf die Seite von Dreyfus und beleuchtete die Hintergründe der falschen Anschuldigungen. Spätestens seither gilt die Dreyfus-Affäre als beispielhaft für die Folgen antisemitischen Denkens.
Dass Teitelbaum den Dreyfus-Roman Schaikewitschs erwähnt, ist kein Zufall, sondern wohl kalkuliert. Einerseits wächst der spätere Schauspieler in einer nahezu geschlossen wirkenden jüdischen Umwelt auf, geschützt durch die „Varshever heyf“, die kaum ein Zeugnis vom sonstigen Leben in Warschau, Polen und der damaligen Welt zu erreichen scheint. Andererseits verweist der Autor zwar sparsam, aber unübersehbar darauf, wie gefährdet dieses „Vollglück in der Beschränkung“ ist, auch wenn diese Hinweise bis zur Hälfte des Buches von manchem Leser vielleicht kaum wahrgenommen werden.
Das ändert sich mit dem Kapitel „Der Hof von Janasche“. Die Auflehnung gegen das zaristische Regime hinterlässt auch in der kleinen Welt der jüdischen Höfe ihre Spuren, gleichzeitig entdeckt Teitelbaum die Welt des Theaters für sich und rückt mehr und mehr ab von den strengen Regeln der orthodoxen Religionsausübung. In diesem dritten Teil seiner Erinnerungen nimmt er Abschied von der Welt der Warschauer Höfe, um sich zunehmend der Welt außerhalb dieser geschützten Innenräume zuzuwenden.
Der besondere Reiz seiner Erinnerungen liegt darin begründet, dass der Autor die kleine idyllische Welt, die er zugunsten der großen verlässt, an keiner Stelle kritisiert. Die Menschen, die damals dort gelebt haben, waren glücklich, darauf beharrt Teitelbaum ohne Wenn und Aber. Indem er diesem Glück, so klein es auch erscheinen mag, in seinen Erinnerungen Raum gibt, bewahrt er es vor dem Vergessen wie vor der Arroganz derer, die dort nur geistige Enge, Elend und Armut zu sehen im Stande sind und waren.
Umso heftiger wird der Leser von der Widmung ergriffen, die Teitelbaum seinem Vorwort und damit dem Buch als Ganzem vorausstellt:
Zum heiligen Angedenken
an meine Schwester Perele,
meine beiden Schwager Nachem und Joyel
sowie ihre Kinder und Enkel,
die in den Gaskammern der Nazis den Märtyrertod fanden.Möge Gott ihr Blut und das Blut aller anderen Märtyrer rächen.
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