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Leseprobe 3
Samstag, 17. Januar
Am Samstag standen Sarah und ich nach unserem Volleyballtraining vor der Turnhalle und warteten auf Franzi und Dhelia. Wir hatten Franzi, die als Einzige von uns bereits achtzehn war und allein fahren durfte, gebeten, pünktlich zu sein. Allerdings hatte sie damit schon immer so ein Problem gehabt. Normalerweise nannten wir ihr für alle Treffen extra eine Uhrzeit eine halbe Stunde früher, aber unsere Trainingszeiten waren ihr dummerweise bekannt. Es war bitterkalt. Konnte der Winter nicht endlich mal zu Ende sein? Dieses triste Grau und Weiß überall machte einen noch depressiv. Ich wollte endlich wieder Farben sehen und die Sonne auf dem Gesicht spüren. Ich beugte mich über einen der Blumenkübel vor der Turnhalle und starrte in den Schnee in der Hoffnung, schon ein paar Blumen zu sehen.
»Und was genau machst du da?«
»Schneeglöckchen suchen«, antwortete ich Dhelia, die im Gegensatz zu Franzi fast pünktlich aufgetaucht war.
»Und
wieso?«
»Wenn ich Schneeglöckchen finde, ist der Winter bald vorbei.«
»Dagny, ich zerstöre deine Hoffnungen und Träume nur äußerst ungern, aber es ist Januar. Der Winter geht noch mindestens einen Monat weiter. Sei tapfer, nimm es hin.« Erst jetzt drehte ich mich zu Dhelia um und sah sie vorwurfsvoll an.
»Du bist wirklich eine sehr mitfühlende Schwester. Womit habe ich dich nur verdient?«
In diesem Moment fuhr Franzi hupend vor der Turnhalle vor und meine Schwester vergaß ihre Antwort, denn sie war zu sehr damit beschäftigt das Auto angewidert anzusehen. Der Gedanke in einem pinkfarbenen Corsa sitzen zu müssen war sicher unerträglich für sie. Nun, wie sagte Oma gerne, die kleinen Sünden bestraft der liebe Gott sofort.
»Ladys, euer Chauffeur ist hier. Bitte einsteigen und anschnallen.«
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen, als sich Dhelia widerwillig in Franzis Wagen setzte. Für sie konnte die Fahrt nicht schnell genug vorbei sein, das konnte man ihr geradezu ansehen.
Als wir schließlich nach knapp fünfzehn Minuten Fahrt vor einem alten roten Backsteinhaus anhielten und ausstiegen, war ich etwas überrascht. Es gab nichts, was von außen darauf hingedeutet hätte, dass hier eine Wahrsagerin wohnte. Das Haus sah sogar sehr normal aus Blumen vor den Fenstern, weiße Vorhänge dahinter, eine Fußmatte vor der Eingangstür. Aber nirgendwo ein Schild oder ein anderer Hinweis auf Madam Allegra, wie Franzi die Dame nannte.
Als Franzi an der Tür läutete und uns die Tür geöffnet wurde, erschien keine alte Dame in merkwürdigen Klamotten, wie ich es erwartet hatte. Eine junge Frau, die nicht viel älter sein konnte als wir, trat uns entgegen. Keine grauen, wilden Haare und Zigeunerklamotten oder etwas in dieser Richtung. Die junge Frau hatte dunkle, lange Haare und hellbraune Augen, so weit, so normal, ebenso ihre Kleidung, ein paar schwarze Jeans und ein roter Rollkragenpullover. Einzig ihre Tätowierung im Gesicht, einige Schnörkel und Schlangenlinien, die über ihre Stirn und Wange an ihrem linken Auge vorbeiführten, waren außergewöhnlich. Ob es eine echte Tätowierung war oder nur Henna, war schwer zu sagen. Sarah schien es ebenso zu gehen, denn sie sah mich fragend an.
»Du bist die Nichte von Agatha?« Franzi nickte auf die Frage und die junge Frau bat uns einzutreten und führte uns in ihr Wohnzimmer. »Agatha sagte mir, ihr habt ein Schulprojekt und wolltet euch deshalb einmal aus der Hand lesen lassen?«
»Ja. Madam Allegra, meine Tante schwärmt so von Ihnen und deshalb haben wir gedacht
«
»Kein Madam. Mein Name ist Allegra Sturm. Also entweder Allegra oder Frau Sturm«, unterbrach sie Franzi. Sie musterte uns vier, eine nach der anderen, bevor ihr Blick an Dhelia und mir hängen blieb. Das war nicht gerade unüblich. Es gab viele, die so auf uns reagierten, wenn sie uns zum ersten Mal sahen. Das gleiche Gesicht, nur einmal blass mit schwarzen Haaren und braunen Augen und einmal sonnengebräunt mit blonden Haaren und blauen Augen. Für gewöhnlich kam kurz darauf die Frage, wer sich färbte. Diese Allegra aber nickte nur kurz, so als würde sie sich eine unausgesprochene Frage beantworten, dann bat sie uns Platz zu nehmen und griff nach Franzis Hand.
Ich wusste genau, was sie fragen würde. Franzi hatte in den Weihnachtsferien einen Skilehrer kennengelernt und sich unsterblich verliebt. Dass diese Liebe keine Chance hatte, ließ sie nicht gelten. Doch bevor Franzi auch nur ein Wort rausbringen konnte, sah Allegra von ihrer Hand auf und in ihr Gesicht.
»Du suchst die Liebe beim Falschen. Du solltest dich noch einmal genauer umsehen. Du suchst zu weit weg. Sie ist viel näher, als du glaubst.« Es schien, als hätte Franzis Tante doch etwas mehr über ihre Nichte erzählt. Franzi runzelte die Stirn und sah sich ihre Handfläche genau an.
»Soll das heißen, Daniel ist nicht der Richtige für mich? Aber ich war mir so sicher, dass wir eine besondere Verbindung zueinander haben!« Mit großen Augen sah sie Allegra an und wartete offensichtlich darauf, dass die Wahrsagerin ihr versicherte, dass ihr Skilehrer doch die Liebe ihres Lebens sei. Doch Allegra tat ihr den Gefallen nicht. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kann dir keine Namen nennen. Ich sehe nur, dass der, den du zu lieben glaubst, nicht der ist, der für dein Herz bestimmt ist. Es gibt jemanden, dessen Herz für dich schlägt, und wenn du mit offenen Augen durch die Welt gehst, wirst du ihn sicher finden.«
Franzi presste ihre Lippen fest zusammen. Nein, das war ganz und gar nicht die Antwort, die sie hatte hören wollen. Sie zuckte leicht mit den Schultern, tat Allegras Worte damit ab und lehnte sich zurück.
»Okay, such ich halt in der Nähe«, sagte sie, aber kaum, dass Allegra den Blick von ihr abwandte, rollte sie mit den Augen. Ich unterdrückte ein Kichern, während Allegra sich Sarah zuwandte. Sarah wischte sich die Hände noch einmal an ihren Jeans ab, bevor sie sie Allegra reichte.
»Ich
ich würde gern wissen, ob meine Zukunftspläne so wahr werden, wie ich sie mir vorstelle.« Sarah klang richtig aufgeregt. Ob sie diesen Humbug hier glaubte? Ich warf Franzi einen Blick zu, doch die war damit beschäftigt Allegra mit Blicken zu ermorden. Als ich mich Dhelia zuwandte, schien diese ebenso im Bann der Wahrsagerin wie Sarah. Dabei hatte ich erwartet, dass sie die Erste von uns wäre, die diese Aktion hier mit einem »Bah, Humbug« abtun würde.
»Ich sehe den Eiffelturm und Kunstgalerien. Ein Studium in Frankreich?«, fragte Allegra und Sarah nickte begeistert. Schon als sie ein kleines Kind gewesen war, hatte sie davon geträumt in Paris Kunst zu studieren. Es schien, als wäre dieser Traum gar nicht so utopisch. Vielleicht war diese Allegra doch nicht so schlecht, denn das konnte sie auf keinen Fall von Franzis Tante wissen. Und bei all dem, was ich wusste, wie konnte ich die Möglichkeit ausschließen, dass sie eine wirkliche Wahrsagerin war?
»Deinem Ziel steht nichts im Wege. Im Gegenteil, so, wie es aussieht, kannst du darauf vertrauen, dass deine Träume wahr werden. Ihnen geht aber eine Menge Arbeit voraus.« Das konnte sie wohl laut sagen. Ich habe selten jemanden gesehen, der sich so in etwas hineinkniet wie Sarah in ihre Kunst.
»Dann
dann läuft alles glatt? Das wird alles wirklich so werden, wie ich es mir vorstelle?«
Allegra nickte und fuhr mit dem Zeigefinger über die Linien in Sarahs Hand, ihre Augen schienen aber ins Leere zu blicken. »Ja, soweit es dein Studium betrifft, wird alles genau so verlaufen, wie du es dir derzeit vorstellst.«
Sarah lächelte selig, als Allegra ihre Hand losließ, und blickte in ihre Handfläche, als könnte sie selbst ihre Zukunft darin sehen.
»Falls ihr eine Pause machen wollt
«
»Nein, wieso denn?«, unterbrach Franzi die Wahrsagerin. »Dhelia, du bist dran.«
Dhelia zögerte, als sie Allegra ihre Hand entgegenstreckte. Überhaupt hatte sie sehr angespannt gewirkt, seit wir das Haus betreten hatten. Kein Stirnrunzeln, kein Augenrollen, keine Bemerkung über die angeblichen Vorhersagen. Das war sehr untypisch für sie. Aber auch diese Allegra schien zurückhaltender darin, ihre Hand zu nehmen, als sie es noch bei Franzi und Sarah gewesen war. Hatte sie selbst eine Pause gewollt? Aber wieso? Langsam griff sie nach Dhelias Hand, vorsichtig, als habe sie Angst, sich zu verbrennen. Kaum hatte sie ihre Hand ergriffen, zuckte sie zusammen und sah entsetzt auf.
»Dich wird jemand verraten, dem du bedingungslos dein Herz geschenkt hast.« Allegras Stimme klang merkwürdig, so, als wäre sie in Gedanken ganz woanders, und auch Dhelia sah benommen aus, als sie ihre Hand langsam zurückzog. Allegras Hand lag noch immer auf dem Tisch und ihre Augen starrten in Dhelias Gesicht. Dabei zitterte sie leicht und mit einer Hand fuhr sie sich an ihren Hals.
»Ein hinterhältiger Dolchstoß, mitten ins Herz«, flüsterte Allegra. »Grausam und erbarmungslos. Die Dunkelheit breitet sich aus. Sie greift um sich und verschlingt alles in ihrem Weg Stehende.«
Sie sprach diese Worte in einer tonlosen Art, dass ich eine Gänsehaut bekam.
»Unabwendbar. Hoffnungslos.«
Ich konnte sie kaum noch verstehen, so leise war ihre Stimme geworden. Das alles hier kam mir gerade wie ein ganz mieser Horrorfilm vor. Es fehlte nur noch das obligatorische Gewitter, das ihre Worte unterstreichen würde.
Ich sah Dhelia an, die noch blasser war als sonst. Wie Sarah zuvor blickte sie in ihre Handfläche, aber mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen. Während sich mir die Härchen im Nacken aufstellten und Allegra noch immer leicht zitterte, saß Dhelia einfach nur da und starrte auf ihre Hand.
»Okay
sollen wir weitermachen?«, fragte Franzi vorsichtig und ehe ich darüber nachdenken konnte, streckte ich Allegra meine Hand hin. Ich ließ meinen Blick noch einen Moment auf Dhelia gerichtet. Ich musste später mit ihr reden und sie fragen, was da gerade passiert war.
Allegra konnte ihren Blick noch immer nicht von Dhelia losreißen, als sie meine Finger ergriff. Als sie schließlich wieder redete, klang sie überraschend traurig.
»Ich sehe dich vor einem Grab stehen. Schnee liegt auf dem Boden und du bist ganz in Schwarz gekleidet. Es ist eine Beerdigung.« Das klang überhaupt nicht gut. Sollten Wahrsager nicht immer etwas Positives zu sagen haben? Wieso nicht bei Dhelia und mir? Wo war unser Pariser Kunststudium?
»Vor wessen Grab?«, fragte ich trotzdem. Es war wie ein innerer Drang. Zumindest kam es mir in diesem Moment so vor. Ich wollte hören, wessen Beerdigung ich ihrer Behauptung nach besuchen würde. Doch Allegra gab mir keine Antwort.
»Vor wessen Grab werde ich stehen?«, fragte ich noch einmal fordernder. Sie saß einfach da und starrte den Tisch an, nachdem sie mir gesagt hatte, dass ich vor einem Grab stehen würde. Sie hatte mir eine Antwort zu geben!
»Dagny.« Ich spürte Dhelias Hand auf meinem Arm und starrte weiter Allegra an. Ich wollte eine Antwort.
»Dagny, es ist mein Grab. Ich werde sterben. Noch diesen Winter. Der Dolchstoß ins Herz ist wörtlich gemeint.« Allegras Kopf sank noch tiefer und ihr Schweigen bestätigte Dhelias Worte.
»Miese Show! Verdammt mies!«, flüsterte ich, als ich aufsprang und den Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, beinahe umwarf. Ich kramte einen Geldschein aus meinem Portemonnaie und warf ihn auf den Tisch.
»Sie sollten sich wirklich schämen, so einen Unsinn zu erzählen!« Ich griff Dhelias Hand und zerrte sie nach draußen. Ich kochte geradezu. Sarah und Franzi brauchten einen Moment, ehe sie hinter uns aus dem Haus kamen. Bis wir im Auto saßen, sagte keine von uns ein Wort. Dhelia blickte aus dem Fenster, Franzi und Sarah stur geradeaus auf die Straße.
»Die hat sie doch nicht alle.«
»Genau, das war doch purer Humbug. Wer weiß, was die sich alles ausdenkt. Wahrscheinlich dachte die, den Teenies erteil' ich mal 'ne Lektion. Ich red sofort mit meiner Tante, wenn ich heimkomme, die wird nie wieder zu ihr gehen!«
»Ja, aber wir sollten noch einmal hingehen. Im Sommer. Alle vier, quicklebendig.«
Sarah und Franzi übertrafen sich gegenseitig darin, Allegra und ihre Vorhersagen schlechtzumachen. In jedem anderen Augenblick wäre ich ihnen dankbar gewesen. Jetzt wollte ich nur noch hier weg.
Als Franzi uns zu Hause abgesetzt hatte, wartete ich, bis ihr Auto aus der Auffahrt verschwunden war. Dann ergriff ich Dhelias Hand. Sie seufzte, doch als sie sich zu mir umdrehte, war sie vollkommen ruhig. Kein bisschen aufgebracht oder wütend oder irgendetwas.
»Der Wutausbruch wäre eigentlich mein Part gewesen«, sagte sie sogar noch leichthin.
»Ich hab vielleicht übertrieben. Okay. Aber diese dumme Kuh hat mich einfach auf die Palme gebracht. So einen Quatsch zu erzählen
«
»Sie lügt nicht, Dagny. «
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