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Russische Polonaise

LITERRA-ONLINE-SERIE: Tot aber feurig. LITERRA-ONLINE-SERIE: Tot aber feurig.

Episode 5 von Tanya Carpenter und Melanie Stone

Gerard rannen Sturzbäche von Schweiß den Rücken hinab, die den Niagarafällen Konkurrenz machten. Vorige Woche hätte dies noch einen höheren Zweck erfüllt. Nämlich die hundertjährige Eiche im Schlosspark zu löschen, die Waldi versehentlich in eine stehende Fackel verwandelt hatte. Aber da ahnte Gerard noch nichts von Horst Schlamms Plänen. Somit war die Eiche nicht zu retten gewesen und Gerard beschlich das ungute Gefühl, dass es ihm ähnlich erging, wenn er die neueste Kreation des Trolls verkostete, deren Zutaten nicht nur eigenwillig, sondern zuweilen auch gefährlich waren. Wie die Suppe vergangenen Monat, die bei Gerard letzten Endes als Rohrreiniger Verwendung gefunden hatte. So blitzblank waren die Abwasserkanäle des Schlosses in den letzten achthundert Jahren nicht mehr gewesen und es war gesundheitsamtlich bestätigt, dass auch in den nächsten Jahrzehnten keine Art von Keimen oder Ungeziefer hier irgendeine Überlebenschance hatte.
Gerard war von der Wirkung zwar überaus beeindruckt und an dem umgehend angemeldeten Patent waren bereits mehrere Reinigungsmittelhersteller interessiert, aber die Vorstellung, was eine neuerliche Kreation dieser Art in seinen Eingeweiden anrichtete, stimmte ihn keineswegs fröhlich. Horsts Küche war nicht nur eine Zumutung für seine Geschmacksknospen, sondern auch für sämtliche anderen Sinnes- und Nichtsinnesorgane seines Körpers. Doch der Troll kannte keine Gnade.
„Schätzelein, vertrau mir. Ich weiß, was eine gute Küche ausmacht. Von O’dols Rezepten wird man noch zum Kaninchen. Aber wir zwei sind doch richtige Männer, oder?“ Horst schlug ihm derart heftig auf die Schulter, dass Gerard in die Knie ging und sekundenlang keinerlei Gefühl mehr im Arm hatte. Trolle und ihre ständige Unterschätzung der eigenen Körperkräfte!
Im Geist ging er noch einmal den korrekt gebundenen Knoten für eine Armschlaufe durch, dachte kurz darüber nach, dem Dasein eines richtigen Mannes abzuschwören, sich einem Suppenschutzprogramm anzuschließen und fluchtartig das Land zu verlassen, doch dann straffte er die Schultern und blickte todesmutig in Horst Schlamms gelbe Augen. Wenn er schon jeden Moment mit einer schweren Eintopfvergiftung dahinschied, dann wenigstens hocherhobenen Hauptes.
Wie bedauerlich, dass sein Magen da entschieden anderer Meinung war. Als der Troll den Deckel des 15-Liter-Topfes hob und die unappetitlichen Schwaden durch die Küche zogen, wäre Gerard beinahe wieder in die Knie gegangen. Sein Geruchssinn stellte den Dienst ein und in seiner Bauchgegend herrschte pure Anarchie.
„Grmph!“, knurrte Horst, „der deftige Allerleitopf für die Orks muss wohl noch etwas länger ziehen.“
Zu Gerards Erleichterung schloss der Koch den Pott und wanderte zum nächsten. Vorsichtig wagte der Butler einen Atemzug und verzog erstaunt das Gesicht. Verglichen mit der Ork-Mahlzeit entwichen hier wahre Wohlgerüche unter dem gelüfteten Deckel, auch wenn sie immer noch Gerards Geruchsrezeptoren in den Selbstmord trieben. Was aber prinzipiell auf alles zutraf, das aus Horsts Küche stammte.
Der Troll reichte ihm freudestrahlend einen vollen Löffel der undefinierbaren Masse und Gerard beruhigte sich damit, dass er für später genug Natron in seiner Kommode hatte, mit dem er eventuelle Verätzungen der Magenschleimhaut behandeln konnte und eine ausreichende Menge Rizinusöl, um eine zügige (und vermutlich lebensrettende) Passage durch den Verdauungstrakt zu gewährleisten.
Horst führte den Löffel in kreisenden Bewegungen und begleitet von Flugzeuggeräuschen in Richtung des Butlers, der den dringenden Wunsch verspürte, dem Koch eines mit der Kelle überzuziehen. „Schön ‚Aaah’ sagen! Hier kommt mein Russischer Eintopf!“
Borschtsch?! Gerard hob seine Brauen so weit, dass sie beinah im Haaransatz verschwanden. Er hatte schon Borschtsch gegessen, der allerdings nicht annähernd die Konsistenz dieses Gerichtes aufwies. Und dann der Geruch! Alleine von den Dunstschwaden, die aus dem Topf stiegen, wurde ihm warm und schwindlig. Sekundenlang stand der Koch in zweifacher Ausfertigung vor ihm, bevor er wieder zu einer Person verschmolz. Benebelt nahm er den Löffel entgegen, bevor Horst ihn in Gerards Mund landen lassen konnte, nippte vorsichtig daran – und riss im nächsten Moment die Augen auf.
Seine Geschmacksknospen stimmten ein ausgelassenes Halleluja an und tanzten Tango. Ein seliges Lächeln breitete sich auf Gerards Gesicht aus und ohne sein bewusstes Zutun versank der Löffel erneut im Eintopf. Horst stand mit stolzgeschwellter Brust neben dem Butler und begann, eine ausführliche Zutatenliste aufzusagen, doch Gerard hörte ihm nicht zu. Was in Anbetracht des Zusammenspiels von Vorstellungskraft und tatsächlicher Auswirkung nicht gerade die schlechteste Wahl war. Da er also die wahre Zusammensetzung nicht kannte, blieb ihm auch deren potentielle Wirkungsweise verborgen. Somit war er schlicht überwältigt vom Geschmack und schaufelte immer mehr Eintopf in sich hinein, ohne dabei zu bemerken, wie dieser seine volle Wirkung entfaltete.
„Hoscht! Du bischt ein groscher Koch! Gansch grosch!“ Mit sich und der Welt zufrieden, fuchtelte der Butler mit dem Löffel herum und stach Horst dabei ins Auge, der aufquiekte und Gerard kurzerhand entwaffnete.
„Nu is aber gut, Schätzelein! Sonst bleibt ja nichts mehr für die Gäste übrig.“ Eine Hand hielt er vor das tränende Auge, mit der anderen schob er den Butler Richtung Ausgang. Gerade als er die Tür aufzog, lief Natascha vorbei, die verdutzt zum Koch und dem entrückt grinsenden Gerard sah.
„Oh mein Gott, hast du ihn eine deiner Kreationen kosten lassen? Wie viel Zeit für ein Gegengift habe ich noch?“ Panisch sah sich die Restaurantleiterin auf dem Flur um.
Horst hingegen verschränkte empört die Arme vor der Brust. „Es geht ihm wunderbar. Hat nur zu tief in den Russischen Eintopf geschaut.“
„Russischer Eintopf?“ Misstrauisch sah sie den Koch an. „Nach Waldgnomart?“ Natascha ergriff Gerard am Fracksaum und hinderte ihn so daran, die Ritterrüstung zu einem Tänzchen aufzufordern.
„Ein Originalrezept! Nur echt mir zehn Liter 56prozentigem Wodka.“ Hinter ihm jaulte eine Sirene auf. „Oh, mein Vogelbeerenauflauf verbrennt gerade. Kümmer dich um unseren britischen Heißsporn. Und … halt Aspirin bereit. Viel Aspirin!“
Natascha setzte zu einer Erwiderung an, doch der Koch knallte ihr die Tür vor der Nase zu und ließ sie mit Gerard zurück, der in einen Spiegel sah und sich dabei blendend mit seinem Gegenüber unterhielt. Die Restaurantleiterin blickte zu den Papieren in ihrer Hand und verabschiedete sich in Gedanken von der Hoffnung, die komplizierte Sitzordnung für das bevorstehende Jahrestreffen der Banshees zu lösen. Das würde ein Geheul geben. Sie hakte sich bei dem Butler unter und tätschelte ihm fürsorglich die Hand.
„Kommen Sie, Gerard. Ich glaube, ich werde Sie besser zu Ihrem Zimmer bringen.“ Sie zögerte einen Moment. „Und vielleicht wäre ein Eimer eine gute Idee.“
Sie waren keine drei Schritt weit gekommen, als der Einsame Nudist ihnen plötzlich den Weg abschnitt. Er baute sich schnaufend vor den beiden auf und versuchte vergeblich, die Hände in die nicht vorhandenen Hüften zu stemmen.
„Ist Ihnen kalt?“, fragte Natascha verwundert und betrachtete das zitternde Batiklaken.
„Natürlich ist mir nicht kalt! Ich bin ein Geist! Ein totes Wesen ohne jegliche Gefühle. Daher kann man ja auch auf mir herumtrampeln! Man muss sich nicht um mich kümmern, oooooh nein.“ Unter den maulenden Ton mischte sich ein weinerlicher Klagelaut.
Natascha verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.“
„Ach nein?“ Theatralisch schniefend schwebte der Einsame Nudist ein Stück näher. „Soll ich nachhelfen? Warum dürfen alle anderen Geister einen Tanz für die Heulsusen einstudieren, nur ich nicht?“
Natascha blinzelte einige Male, bis der Groschen fiel. „Ah! Die paranormale Polka und der ektoplastische Ententanz für die Banshees!“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie hätten ja mittanzen können, wenn Sie eingesehen hätten, dass es bei keinem der beiden Tänze ein Solo gibt.“
„Das ist eine eklatante Missachtung meiner tänzerischen Fähigkeiten!“ Der Einsame Nudist schwebte nun so dicht vor dem Gesicht der Restaurantleiterin, dass sie nur noch ein rosa Batikmuster vor den Augen flimmern sah. „Die Kretins unten im Keller wissen doch nicht einmal, was Takt ist! Die haben keinen Sinn für einen ästhetischen Körperausdruck!“
Natascha wollte etwas erwidert, doch kaum öffnete sie den Mund, hatte sie ein Stück Stoff auf der Zunge. Angewidert wich sie zurück, verhedderte sich dabei in dem Laken und schaffte es nur, sich mit rudernden Armen zu befreien. Keuchend funkelte sie den Geist an, hob drohend den Finger, als ein lautes „Holladrio!“ sie zusammenfahren ließ. Die Stimme kannte sie doch?!
„Gerard?“ Hektisch sah sie sich um, drehte sich im Kreis und hob sogar das Laken des Einsamen Nudisten an, doch nirgends war eine Spur des Butlers. „O nein! Ich habe Gerard verloren!“
„Wie kann man einen Butler verbummeln?“ Für einen Moment war der Einsame Nudist derart verwirrt, dass er sogar das Maulen vergaß.
„Noch ein Wort und ich hänge dich in der Fitnesshalle als Boxsack auf!“
Das Gespenst setzte zur Gegenwehr an, Natascha hob warnend eine Augenbraue und es wurde so still, dass man eine Nadel hätte fallen hören – wenn nicht aus der Ferne ein ausgelassenes Jauchzen über den Flur geschallt wäre.
„Der Keller!“ Natascha fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und eilte davon. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend hastete sie die Treppen hinunter und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Das Bild, das sich ihr bot, ließ sie einen Moment an ihrem Verstand zweifeln.
„Gerard?“, fiepste sie mit großen Augen und beobachtete den Butler dabei, wie er quer durch den Raum tanzte. Die Enden seiner gelösten Fliege flatterten ihm um den Hals, seine Haare hatten sich von der Schreckensherrschaft der Pomade befreit und wellten sich frivol an seiner glänzenden Stirn. Sogar die sonst sittsam geschlossene Leiste seines blütenweißen Hemdes hatte zur Rebellion geblasen und gab nun durch zwei offene Knöpfe die Sicht auf seine Brust frei. Nur der Rand des Unterhemdes verhinderte allzu tiefe Einblicke. Als wäre das nicht unfassbar genug, waren sämtliche im Schloss wohnenden Geister (bis auf den Einsamen Nudisten, der lauthals lachend neben ihr stand) hinter ihm aufgereiht und folgten fröhlich jedem seiner Schritte. Zur Krönung des Ganzen sang Gerard dabei auch noch lauthals ein schräges Lied mit noch schrägerem Reim.
„Hier kommt die Pooolonaise, ooohne Bolognese, dafür mit Borscht, von unserm Horscht. Das macht uns froh, Holladrio!“ Mit rotglühenden Wangen hüpfte der Butler an Natascha vorbei und zwei Dutzend Gespenster folgten ihm – ebenfalls singend – als wäre er ihr Leithammel.
Natascha wusste nicht, ob sie lachen oder sich Sorgen machen sollte. Als sie sich jedoch vorstellte, wie sie DAS Gerard morgen unter die Nase reiben würde, verschränkte sie die Arme und grinste breit.
Letzteres erstarb allerdings als sie realisierte, dass er mit seinem Gefolge direkten Kurs auf die Gästezimmer nahm. Für einen Betrunkenen war er verdammt schnell. Ehe sie ihn eingeholt hatte, klopfte er bereits an die Türen und deutete den verdutzten Gästen mit debilem Grinsen das Ende der Schlange, in die sie sich einreihen sollten. Zu Nataschas völliger Verwunderung stimmten fast alle freudestrahlend in den schaurigen Singsang ein und folgten mit übertrieben wiegenden Hüften und ohne sich über das Aussehen der geisterhaften Animateurtruppe zu wundern der wachsenden Polonaise durch das halbe Château.

Szenentrenner


Gil entglitt sein Cognac-Schwenker, als die muntere Gesellschaft durch den Privatsalon steppte und Gerard war tief in seinem Inneren noch soviel Butler, dass er seinen Anhang auf der Stelle tänzeln ließ, während er dienstbeflissen ein neues Glas füllte. Beflügelt vom Geist des heiligen Wodkas legte er noch rasch mit der völlig verdutzten Lucy ein brillantes Solo aufs Parkett, das mit begeistertem Applaus kommentiert wurde. Außer vom Einsamen Nudisten, der diesen Affront nun endgültig persönlich nahm.
Als Gerard den Salon verlassen wollte, schritt Natascha energisch ein. Sie packte ihn am Kragen und zog ihn von den singenden Geistern und tanzenden Hotelgästen weg, die einfach weiter ihrer Polonaise frönten. Darum würde sie sich später kümmern. Erst mal galt es, den Butler zur Raison zu bringen. Der kicherte wie ein kleines Kind und blinzelte sie aus seinen stahlblauen, alkoholgetrübten Augen an. Natascha kam wieder nicht dazu, einen vollständigen Satz von sich zu geben, denn bei seinem Anblick hätte sie um ein Haar vergessen, warum sie hier überhaupt stand. Plötzlich wurde sie von Gerard gepackt, in bester Tangomanier nach hinten gebogen und mit einem heißblütigen Blick von oben bis unten gemustert. Er schlang seine Arme noch fester um sie und hauchte mit wodkageschwängertem Atem: „Natascha! Meine feurige Kirschwasserpraline!“ Ehe sie sich’s versah, drückte er ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen.

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„Ohh! Ahh! Uhh! O Gott!“ Gerard hatte Mühe, seine Umgebung scharf zu stellen. In seinem ganzen Leben hatte er sich noch nicht so elend gefühlt. Als wäre auf seiner Zunge ein Hammel verendet und die Verwandten trafen sich zur Beerdigung in seinem Kopf. Wobei er das Trauerlied höchst unangemessen fand. Irgendetwas mit Holladrio. Und warum musste er dabei ausgerechnet an Natascha denken? Gerard legte die Stirn in Falten, krabbelte in Zeitlupe aus seinem Bett und tastete sich ins Bad. Gerade wollte er nach seiner Zahnbürste greifen, als sein trüber Blick auf eine mit Lippenstift verfasste Nachricht auf seinem Spiegel fiel, unter der ein kleiner Pfeil zu einer weißen Schachtel auf dem Waschbecken wies. Gerard erstarrte.
„Die wirst du nach DER Nacht sicher brauchen. Deine Natascha.“
Was sollte das heißen: Nach DER Nacht? Und seit wann waren er und Natascha per du? Alarmiert starrte er in den Spiegel, durchwühlte seinen vernebelten Verstand nach den Puzzlestücken, die ihm für ein vollständiges Bild der letzten Stunden fehlten. Als dann tatsächlich eine Erinnerung hochkroch, wünschte er sich auf eine einsame Insel. Er hatte Natascha verführt! Ihre Ehre beschmutzt! Hoffentlich hatte das niemand mitbekommen.

Seine Hoffnungen fanden ein jähes Ende, als er in seiner üblich akkuraten Aufmachung den Flur betrat. Lord Gil und Lady Lucy kamen ihm entgegen und sein Anblick zauberte ein anzügliches Grinsen auf ihre Gesichter.
„Gerard!“, rief Lord Gil und schlug dem Butler kräftig auf die Schulter. Offenbar wurde das zur Gewohnheit unter den Anwohnern Mort m’Ardents. Gerard sollte sich wohl besser schon mal über Armprothesen erkundigen. „Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut!“
Peinlich berührt schaute Gerard zu Boden. Sein Fauxpas war wohl doch nicht unbemerkt geblieben. Lord Gils Worte wurden von Lady Lucy getoppt.
„Allerdings! Wo haben Sie nur all die Jahre diese Leidenschaft versteckt?“ Ihr Zwinkern war verschwörerisch, was in Gerard den sehnlichsten Wunsch nach einem Loch auslöste, in dem er versinken konnte.
„M ... meinen Sie, dass noch andere davon ...“
„Aber sicher! Das ganze Château. Es schallte ja die Gänge rauf und runter“, bestätigte Lady Lucy seine schlimmsten Befürchtungen und gab ihm einen Knuff auf den Arm – wohin auch sonst. Gerard wechselte wie ein Stimmungsring die Farbe und stand kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.
„Mylord, Mylady! Ich bitte um Vergebung. Für mein unangemessenes Verhalten, für das ich selbstverständlich die Konsequenzen trage. Doch zunächst muss ich ... ich kann nicht ... muss ihr erklären ...“
Während er die Reste seines Vokabulars zusammenkratzte, stürzte Gerard davon, um Natascha zu suchen. Die verwirrten Blicke von Gil und Lucy sah er nicht mehr.

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Er brauchte bis zum späten Nachmittag, um sich einerseits eine angemessene Formulierung zurechtzulegen und andererseits Natascha zu finden, die gänzlich mit den letzten Vorbereitungen für das Banshee-Treffen beschäftig war. Als er ihr endlich gegenüberstand, versagte ihm um ein Haar das Deo. Wie sie ihn anschaute, so herausfordernd und wissend. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie stemmte die Hände in die geschwungenen Hüften und Gerard konnte seinen Blick nicht von den Rundungen abwenden. Hatte er in der letzten Nacht tatsächlich seine Hände ...? Seine Unterlippe bebte und ihm rauschte das Vokabular endgültig ab.
„Ich ... äh ... weiß gar nicht ... ich meine ... dass ich ... also was ich ...“ Wo waren sie hin, seine schönen Formulierungen? Hatten sich vermutlich mit dem Deo auf und davon gemacht.
Nataschas Schmunzeln wurde breiter. „Ja, Gerard? Ich höre?“
„Nun, also ... ich ... oder wir ... was da passiert ist ...“
Sie hatte Gnade und beendete sein Gestotter mit überzeugend geäußerten Worten.
„Aber das war doch ganz natürlich.“
Ein Beben fuhr durch Gerard. Natürlich war es natürlich. Doch jegliche Contenance und noch dazu allen Anstand zu verlieren, wie ein Tier den niederen Trieben nachzugeben und so ihre Ehre zu beschmutzen ... Nein! Das ließ sich mit seinem Gewissen nicht vereinbaren. Was konnte er tun, um ihre Ehre wieder herzustellen? Genau! Das war es. Er würde sie heiraten. Würde ihr jetzt und hier einen Antrag machen. Das war das Mindeste. Gerade, als er sich vor ihr auf die Knie werfen wollte, fuhr sie fort und Gerard verharrte in einer eigentümlichen Position mit leicht gebogenen Beinen, angezogenen Fersen und zusammengeklemmten Beinen. Die gleichzeitig gefalteten Hände ließen die Vermutung aufkommen, dass ein Besuch des stillen Örtchens angebracht war und so weit hergeholt war dieser Gedanken nicht.
„Und ich hätte auch nichts gegen eine Wiederholung.“ Natascha strich mit ihren Fingern an seinem Fracksaum entlang und Gerard musste schlucken. Gleich war es soweit. Sein armer, überlasteter Verstand würde sich leise weinend verabschieden. Bevor er sich jedoch seinem anbahnenden Nervenzusammenbruch hingeben konnte, beugte sie sich über ihn und hauchte ihm ins Ohr: “Du bist ein begnadeter Küsser!“
Ihr schelmisches Grinsen und der kokette Augenaufschlag mochten Bände sprechen, doch Gerard verstand davon kein Wort, da sich die ganze Macht der Erleichterung seiner bemächtigte, als Natascha die Nebelschwaden über seinen Erinnerungen mit einem einzigen Wort verscheuchte: KUSS! Es war nur ein Kuss gewesen! Peinlich genug, aber nicht entwürdigend. Ein Kuss! Diese wundervolle Gabe der Natur, mit der man Freunden, Verwandten, Geliebten ... ach, was dachte er denn da schon wieder? Jedenfalls war er derart beglückt über die Aufklärung seines Filmrisses, dass er das Erstbeste tat, was ihm in den Sinn kam: Bis zum Hemdkragen angefüllt mit erleichterter Euphorie schnappte er sich Natascha und versiegelte ihre Lippen mit den seinen.
„Gerard, sie Casanova!“, kam es von hinten.
Erschrocken ließ der Butler die Restaurantleiterin los, die um ein Haar zu Boden fiel und sich nur rettete, indem sie einen Arm um seine Taille schlang. Lady Lucy grinste verschmitzt, zog jedoch in der gleichen Sekunde ungeduldig am Ärmel des Butlers. „Ich muss unseren Don Juan leider entführen. Er muss sich sputen, schließlich warten schon alle.“
Irritiert und noch beglückt von der Erkenntnis, nicht der Unzucht verfallen zu sein, zog Gerard die Augenbrauen zusammen, während er unerbittlich fortgeschleift wurde. „Wie meinen, Mylady? Wer wartet wo?“
„Na, die Gäste! In der Halle!“
„Was... was ist denn mit den Gästen in der Halle?“ Er versuchte, ihren merkwürdigen Gesichtsausdruck zwischen Schadenfreude, Übermut und leichter Bosheit einzuordnen, doch Lucy kam ihm zuvor und stellte ihn vor die schlimmste Tatsache seines bisherigen Lebens.
„Aber Gerard, nachdem die Gäste gestern soviel Spaß mit Ihrer Polonaise hatten, haben wir diese Idee natürlich aufgegriffen. Wir wussten ja nicht, welches Entertainer-Talent in Ihnen steckt. Von nun an werden Sie jeden Tag Gelegenheit haben, sich richtig auszutoben.“
Gerard wurde bleich, rot, grau und dann gelblich-grün. Ihm wurde flau im Magen und er kam zu der Erkenntnis, dass Unzucht vielleicht doch das kleinere Übel gewesen wäre.

http://www.andrae-martyna.de/
© http://www.andrae-martyna.de/

LITERRA-ONLINE-SERIE: Tot aber feurig.
Beitrag vom 18. Jan. 2010


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