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Der Mieter
| DER MIETER
Roland Topor Hörbuch/Hörspiel / Thriller
vitaphon
Originaltitel: Le Locataire Chimérique
4 Audio-CDs, 275 Minuten
ISBN: 978-394221031-7
Sep. 2012, 1. Auflage, 15.95 EUR
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LITERRA EMPFIEHLT Man hatte ihn zum Opfer vorbereitet. Da er ihnen hatte entkommen wollen, traten sie zum Gegenangriff an. Und dabei schreckten sie vor der eindeutigen Aggression nicht zurück. Ob er wollte oder nicht, er musste sich in Simone Choule verwandeln. Sie ließen ihm keinen anderen Ausweg.
Er verzichtete auf seinen Mietvertrag, auf seine Ersparnisse, die in der Kaution enthalten waren. Sein einziges Heil bestand von nun an in der Flucht.
Es ist mittlerweile keine Seltenheit mehr, dass bestimmte Filme eine hohe Popularität besitzen und kaum noch jemand weiß, dass sie eigentlich auf Büchern oder Erzählungen basieren. Wer kennt schon Roland Topor (1938 – 1997), ein Multitalent, das nicht nur schreiben konnte, sondern auch zeichnen und schauspielern? So spielte er beispielsweise in Werner Herzogs „Nosferatu“ an der Seite von Klaus Kinski. In Erinnerung bleiben sollte er uns aber in erster Linie als der Autor des Romans „Der Mieter“ (Le Locataire Chimérique). Ja genau, jener Geschichte, die Roman Polanski als Vorlage für einen seiner besten und intensivsten Filme diente. Erstaunlich werkgetreu und binnen kürzester Zeit, in der Polanski nicht nur am Drehbuch mitwirkte und die Regie übernahm, sondern auch gleich die Hauptrolle spielte, drehte er jenen Film, den er selbst einen „schnellsten Langfilm“ nannte, denn die Arbeit an dem Streifen nahm lediglich acht Monate in Anspruch.
Zum Inhalt:
Trelkovsky sucht händeringend eine neue Bleibe und findet sie schließlich in einem düsteren Wohnhaus in Paris. Das Unglück der Vormieterin Simone Choule, die aus dem Fenster auf ein darunterliegendes Glasdach stürzte, kommt ihm selbst zu gute. Und obwohl die junge Frau noch nicht tot ist, erhält Trelkovsky das Apartment, für das er noch nicht mal die hohe Mietkaution zahlen muss. Trelkovsky kann sein Glück kaum fassen und lädt sogar einige Arbeitskollegen und Freunde zu einer kleinen Einstandsfeier ein. Das stößt bei Trelkovskys Nachbarn aber auf wenig Gegenliebe und schon bald steht der erste Mitbewohner vor seiner Apartment-Tür und bittet energisch um Ruhe und die Einhaltung der Hausordnung. Konfliktscheu und schüchtern wie Trelkovsky nun einmal ist, schickt er seine Bekannten schon bald nach Hause, viel zu früh wie diese meinen. Er solle sich nicht immer so herumschubsen lassen, gibt ihn einer seiner Freunde mit auf den Weg. Obwohl Trelkovsky froh ist die Wohnung bekommen zu haben, lässt ihn das Schicksal von Simone Choule nicht los und er beschließt sie im Krankenhaus zu besuchen. Doch von der jungen Frau ist kaum etwas zu erkennen, da sie vollkommen in Gips gehüllt ist. Lediglich der halboffene Mund, in dem einer der Schneidezähne fehlt, bleibt ihm im Gedächtnis haften. Noch am Krankenbett sitzend macht Trelkovyks die Bekanntschaft mit einer jungen Frau, einer Freundin von Simone, mit der sich Trelkovsky noch öfter treffen wird. Doch das anschwellende, immer lauter werdende Geschrei von Simone veranlasst die diensthabende Krankenschwester zunächst die beiden Besucher aus dem Hospital zu komplettieren. Fortan gerät Trelkovsky immer wieder mit seinen Nachbarn und dem Hausbesitzer aneinander, aus für ihn unverständlichen Gründen. Fällt ihm Abends was auf den Boden oder verrückt er ein Möbel, hämmert es von allen Seiten gegen die Wände und den Fußboden. Bald traut er sich kaum noch den Müll herunterzubringen, weil ihm die Nachbarn bereits böse Blicke zuwerfen, wenn er ihnen im Treppenhaus begegnet. Trelkovsky wird immer verängstigter und unsicherer. Was hat er bloß falsch gemacht? Er versucht schließlich nur in Ruhe sein unauffälliges Leben zu führen. Warum eckt er bei den Nachbarn bloß immer wieder an? Als seine Wohnung eines Abends ausgeraubt wird, scheint sich allerdings keiner der Nachbarn über den Lärm, den die Verwüstungen unweigerlich verursacht haben müssen, beschwert zu haben. Und dann entdeckt Trelkovsky hinter dem Kleiderschrank ein kleines Versteck, in dem er einen herausgebrochenen Schneidezahn entdeckt. Und im Schrank selbst befinden sich sogar noch Kleider und Habseligkeiten von Simone Choule. Trelkovsky weiß, dass ihn die Nachbarn in den Wahnsinn treiben wollen. Genauso wie sie es mit Simone getan haben. Mehr noch. Er soll selbst zu Simone Choule werden und ihr Schicksal teilen. Doch das wird er zu verhindern wissen …
Soviel zur Handlung von „Der Mieter“, einer großartigen, geradezu genialen Geschichte, die bis zum Schluss die entscheidende Frage offen lässt, ob Trelkovsky wirklich dem Wahnsinn anheim gefallen ist, oder ob nicht doch die Nachbarn sich gegen ihn verschworen haben. Wenn Trelkosky sich den Argwohn und die Feindseligkeiten nur eingebildet hat, wie ist dann die Geschichte einer weiteren Nachbarin zu erklären, die schließlich mit ihrer gehbehinderten Tochter die Flucht ergreift? Und wäre es nicht ein allzu großer Zufall, dass Trelkovsky ausgerechnet jenes Apartment bezieht, aus dem Simone Choule gestürzt ist? Oder handelt es sich hierbei nicht lediglich um prädisponierende Faktoren, die in ihrer Fülle erst zum Ausbruch des Wahnsinns in der labilen Persönlichkeit von Trelkovsky geführt haben? Die Interpretationsmöglichkeiten der Geschichte sind mannigfach und zeigen, dass die Handlung von „Der Mieter“ weit über das herkömmliche Maß von Psychothrillern und Horrorfilmen hinausgeht. Sieht man sich den Film heute an, kann man sich keinen besseren Schauspieler für die Rolle des Trelkovsky vorstellen als Roman Polanski. Auch ich liebe diesen Film und habe ihn mir längst für meine DVD-Sammlung besorgt. Er gehört nicht nur zum besten, was Polanski gemacht hat, sondern ist auch einer der herausragendsten Psychothriller, die ich kenne. Umso erfreuter war ich, als ich erfuhr, dass Jens Wawrczek die Geschichte für seine Edition Audoba bei Vitaphon als Hörbuch adaptiert hat. Bereits mit Julian Gloogs „Als ob nichts geschehen wäre“ bewies er seine Vorliebe für abstruse und spannende Geschichten, die mit den Abgründen der menschlichen Seele spielen. Was Roman Polanski im Film gelungen ist, das gelang Jens Wawrczeck im Hörbuch, nämlich Trelkovskys Schüchternheit und Introvertiertheit glaubhaft und echt wirken zu lassen. Trelkovskys Abgleiten in eine Form des Wahnsinns, in der er sich immer mehr in Simone Choule verwandelt, bis zum endgültigen Identitätsverlust, kommt im Hörbuch noch ein Stück differenzierter und eindringlicher rüber als im Film. Die ungekürzte Lesung des Romans kann sich natürlich viel mehr Zeit lassen als ein auf zwei Stunden begrenzter Spielfilm. Bemerkenswert ist auch die allgegenwärtige düstere Atmosphäre, die im Werk von Roland Topor vorherrscht und die den Leser, respektive Hörer, von Anfang an gefangen nimmt. Kein Wunder also, dass „Der Mieter“, gelesen von Jens Wawrczeck einen Ehrenplatz in meiner Hörbuchsammlung bekommen hat, ähnlich wie der Film von und mit Roman Polanski in meiner DVD-Sammlung.
Die deutsche DVD des Films © http://www.film-rezensionen.de
LITERRA EMPFIEHLT Beitrag vom 25. Nov. 2012
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