Bruno Hillebrand (Hrsg.): Über Gottfried Benn – Band 2

Nachwort

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Bruno Hillebrand (Hrsg.): Über Gottfried Benn – Band 2

Hillebrand (Hrsg.)-Über Gottfried Benn – Band 2

Essays, Rezensionen, Gedichte, Statements über Gottfried Benn – dem Leser wird ein literarisch gut gewürztes Ensemble von Urteilen vorgelegt. Über das Werk und damit über den Menschen. Widersprüchlich wird über den Widerspruch gesprochen, der über vier Jahrzehnte seines Lebens die literarische Szene in Bewegung hielt. Früh kam der Ruhm. Beachtung, Anerkennung, Ablehnung, alles war sogleich da. Historisch hat die Resonanz ihre Phasen, das Auf und Ab spiegelt sich in den vorliegenden Schriften. Insgesamt zeigt sich ein Spektrum, das bis heute seine Leuchtkraft nicht verloren hat. Das ist mehr als Wirkungsgeschichte, der Begriff ist zu stumpf, diese Facetten aus Affirmation und Angriff lassen sich nicht bündeln zu einer beruhigten Synthese. Bequem ist gar nichts im Zusammenhang des Werkes und der dahinter stehenden Person, ihrer geistigen Dimension und Inkommensurabilität. Gottfried Benn wußte das selbst, immer erneut hat er zum Ausdruck gebracht, daß hinter dem schöpferischen Geist das Prinzip der Verneinung steht.
Eine Sammlung also von kontroversen Urteilen, bewegten Perspektiven, persönlich vertretenen Standpunkten von 1912 bis zum Augenblick der Redaktion dieses Bandes 1986. Der hundertste Geburtstag rief noch einmal ein starkes Echo hervor. Mit zwei ausgewählten Würdigungen endet die Dokumentation, ganz sicher nicht die Auseinandersetzung mit Benn. Es sieht im Gegenteil so aus, als ob diese einem neuen Höhepunkt entgegengeht. Das bezeugen gerade auch die Beiträge, die extra für diesen Band geschrieben wurden. Die letzten Statements trafen im Herbst 1985 ein. Wie ich Gottfried Benn heute sehe. Unter diesem Stichwort hatte der Herausgeber in den letzten Jahren um Stellungnahme gebeten. Mit literarischen Akzenten sollte die kritische Tour d’horizon nach über sieben Jahrzehnten enden. Zum hundertsten Geburtstag, zugleich zum dreißigsten Todesjahr entfaltet sich somit ein Panorama spontaner Reaktionen. Das beginnt 1912, als Benn das Glück hatte, die Aufmerksamkeit des kongenialen Ernst Stadler zu erregen. Die Morgue war der Startschuß zu jenem Hindernisrennen, zu dem äußerlich wie innerlich das Leben dieses Dichters sich entwickelte. Entsprechend sind die Antworten der Zeitgenossen ausgefallen. Gerecht oder ungerecht – das Kriterium liegt im Engagement. Verehrer und Feinde, Benn hat es immer mit beiden Seiten zu tun gehabt Er selbst hat seinen Standort nie getarnt. Das forderte immer erneut Kritik und Widerstand heraus, in jedem Fall sehr entschiedene Stellungnahmen. Aus Freunden wurden Feinde, als er seinen poetischen Standpunkt aufgegeben hatte, verraten, wie es damals hieß. Für kurze Zeit nur, aber die Erschütterung war um so größer, als man in ihm einen Garanten der geistigen Integrität gesehen hatte.
Das Entsetzen und die Verachtung von 1933 waren berechtigt, darüber braucht man nicht mehr zu streiten. Man kann das nur dokumentieren, als Anregung zum Reflektieren. Antworten gibt es viele, der Leser mag sie selbst finden. Die Auseinandersetzung ist wichtig, sie bleibt aktuell. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, daß Klaus Manns Brief vom 9. Mai 1933 nicht noch einmal gedruckt wurde. Er steht im Zusammenhang der Bennschen Antwort, im zweiten Band dieser Ausgabe (Prosa und Autobiographie). Es gibt Erklärungen, aber keine Entschuldigung. Im doppelten Sinne. Bei Benn als Faktum nicht, und für den nachdenklichen Leser wohl auch nicht als Erwägung. Warum soll eine Schuld nicht stehen, wohin sie gehört? Verblendung war das, kein Opportunismus. Das ist das Fazit der kritischen Stimmen im Überblick.
Ansonsten wird die Themenpalette der Bennschen Dichtung durch die Jahrzehnte vorgezeigt. Mit unausbleiblichen Wiederholungen. Mehr oder weniger kritisch. Immer aber ist der Beitrag, über die persönliche Reaktion hinaus, ein Dokument der Zeitstimmung. Von besonderem Interesse nach 1949. Benns Comeback – er selbst kokettierte mit dem Wort – ist weitgehend zurückzuführen auf die Stimmen, die hier repräsentativ gesammelt wurden. Mancher Leser wird in diesem Zusammenhang den großen Essay von Max Rychner vermissen, der 1949 in der Neuen Schweizer Rundschau erschien, zugleich im Merkur: „Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt“. Ohne Zweifel ein Meilenstein der Wiederentdeckung. Ich habe lange gezögert, aber als Ganzes ist der Essay doch zu umfangreich für diese Anthologie. Andererseits ist er in sich zu geschlossen, um Teile herausschneiden zu können. Im übrigen habe ich ihn schon einmal ganz zum Abdruck gebracht: Gottfried Benn (1979), ein Buch, das weitgehend wissenschaftliche und philosophische Untersuchungen enthält, die hier nicht als Reprise wiederaufgeführt werden sollten. Der vorliegende Band steckt einen anderen Rahmen ab. Wissenschaftliche Zielsetzung arbeitet mit anderen Methoden als der literarische, auch der literaturkritische Zugriff, der aus der Komplexität persönlicher Erfahrung heraus zur Urteilsbildung gelangt. Auf anderer Ebene also hat die wissenschaftlich-analytische Deutung das Werk seziert, hat Stilmerkmale, historische Zuordnungen und Strukturgesetze freigelegt. Man sollte die Verfahren, vorausgesetzt, daß sie integer und intelligent praktiziert werden, nicht gegeneinander aufrechnen. Beiden Seiten kommt im gebührenden Maße Berechtigung zu, beide Seiten leiden am Übermaß der Produktion.
Die Bibliographie bestätigt, daß Benn zum Klassiker geworden ist. Man muß deswegen kein Lamento machen, wie es Mode geworden ist, man kann auch hier einen kühlen, d.h. abwägenden Kopf behalten, auch wenn die Fülle der Titel in der Tat erschreckend ist. Die Bibliographie ist ein Programmheft, sie dokumentiert die konzertante Aktion, die durchgeführt wurde zu Ehren eines Dichters. Kafka und Brecht ist es nicht anders ergangen. Der Leser sollte sich nicht bange machen lassen, bei Bedarf kann er auswählen. Gewiß, ein Phänomen ist es allemal, wie schnell die sekundäre Produktion den primären Bestand überwuchert. Eine Bibliographie ist auch eine Wirkungsgeschichte, die Jahreszahlen geben Auskunft über das Auf und Ab der Beliebtheit. Diese hier, so ist es an entsprechender Stelle verzeichnet, strebt, nach Maßgabe des Möglichen, Vollständigkeit an. Bis zum Zeitpunkt der Endredaktion, wobei sich begreiflicherweise zum Schluß hin die Titel nur noch summarisch erfassen ließen. Wer hier sein Werk nicht wiederfindet, möge nicht böse sein. Die Auseinandersetzung mit Benn wird voraussichtlich nicht nachlassen, und so wird man an der Fortsetzung der Bibliographie fleißig weiterschreiben. Sie wurde hier angefügt, weil das zum Thema beiträgt: so viel also gibt es über Gottfried Benn rein quantitativ, das zum einen, zum anderen, weil die neu Benn-Edition ja gerade auch als Studienausgabe gedacht ist.
Das betrifft ebenso die Statements der Literaten, die eigen für diesen Band geschriebenen Beiträge. Hier wird Literaturgeschichte im Vorgriff dokumentiert. Die persönlich Auseinandersetzung, mit Pro und Contra, ist der unverzichtbare Dialog mit dem Werk und mit dem Menschen, für dessen Leben es stellvertretend steht. Das zu lernen ist wichtiger als Ansammlung und Verwertung analytisch destillierter Materialien, lebenswichtiger gleichsam. Wobei optimale Kenntnis dessen vorauszusetzen ist, worüber man spricht. Leicht ist es, über alles zu reden und zu urteilen, leichtfertig ganz sicher. Objektivität gibt es im Bereich der Künste so wenig wie im Bereich der Kritik. Feststehende Wahrheiten sind das Privileg von Dogmatikern. Unter diesem Gesichtspunkt konnte nicht die Auswahl dieser Sammlung getroffen werden, sie hätte wohl kaum der Lebensrealität entsprochen. Vermischung der Perspektiven – das wäre im Benn-Jargon ein Motto für diesen Querschnitt. Dabei kann der Leser, je nach Geneigtheit, bedenken, inwieweit das Werk Gottfried Benns angefüllt ist mit Annexionen fremder und fremdester Gebiete, mit Assimilaten, die an Waghalsigkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Kritiker und Werk treffen sich oft im Schnittpunkt solcher Hypothesen, also im Imaginären und erzeugen damit wiederum neue poetische Wirklichkeiten. Im Leser.
Zur Hauptsache bewegt sich die Dokumentation im deutschsprachigen Bereich. Garnier und Hohendahl weisen über die Grenzen hinaus nach Frankreich und Amerika. Masini, Ritchie und Yamamoto schrieben eigens für diesen Band, sie erweitern damit das Spektrum der internationalen Wirkung. Fremdsprachige Dokumente wurden bisher in den Anthologien von Peter Uwe Hohendahl (1971) und Wolfgang Peitz (1972) vorgestellt (vgl. Bibliographie). Insgesamt zeigte sich hier schon die mäßige Rezeption der Werke Benns im Ausland. Die Germanistik in den USA nimmt eine Sonderstellung ein, seit langem konzentriert sich dort ein erhebliches Potential der Benn-Forschung. Reinhold Grimm und Richard Exner sind nur Exponenten innerhalb der Szene. Über den Horizont rein wissenschaftlicher Aufarbeitung hinaus sind kritische Perspektiven das tragende Moment dieser Auseinandersetzung. Der Beitrag von Ferruccio Masini zeigt ein vergleichbares, grenzüberschreitendes Engagement. Ungewöhnlich auch in Italien. Auf meine Anfrage, ob er zum Thema Benn in Italien etwas schreiben wolle, antwortete mir Masini 1984: „Meiner Meinung nach hat es – auch in den letzten Jahren – in Italien keine nennenswerten Beiträge gegeben, jedenfalls nicht solche, die für die Benn-Forschung interessant wären bzw. die Analyse der Wirkungsgeschichte Benns in Italien zu einem interessanten Thema machten.“ Auch Frankreich bietet, trotz eingehender Recherchen, kein anderes Bild. Noch ausgedünnter ist das Rezeptionsfeld. Dabei hätten die Franzosen einen guten, egoistischen Grund, sich um Benn zu kümmern, haben sie doch in ihm einen ihrer großen literarischen Verehrer in unserem Jahrhundert. Gottfried Benn im Ausland – weitgehend eine Fehlanzeige? Verglichen zumindest mit dem Echo, das er im eigenen Land hervorgerufen hat.
Die Gründe? Ist er am Ende doch ein sehr deutscher Dichter, radikal in der metaphysischen Fragestellung, romantisch im Gesang und bis zum Hochmut abweisend gegenüber jeder praktischen Vernunft? Die Communio Sanctorum jedenfalls war ihm näher als der Common sense. Der Idealismus als Denkhaltung war und blieb bis zum Schluß seine Heimat. Kommunikatives Handeln in Theorie und Praxis, das wir heute global bedenken und umsetzen müssen, um zu überleben, es war ihm fremd. Nicht im Bereich des Privaten, wo er sich stets hilfreich und umsichtig zeigte, es war ihm fremd als politischer Pragmatismus. Sein konstitutioneller Geschichtspessimismus ertränkte jedes Zukunftsdenken in Hohn und Spott. Utopie – das Zauberwort, das nach ihm aufkam, er hätte es zerfetzt. Der Kommunismus war ihm eine leere Hoffnungsformel, und die Soziologie dokumentierte ihm nur den Leerlauf eines aufgeweichten Demokratismus ohne Idee und Rückgrat. Dabei verteidigte er keine Gegenpositionen – Politik war für ihn insgesamt das Werk von Verbrechern. Für ihn gab es nur eine Alternative, die des Rückzugs, der Meditation. Fanatismus zur Transzendenz – dieses Schlagwort verwendete er mit Nachdruck. Wenn wir in Traditionen denken und uns die Romantik vor Augen halten, dann war er in der Tat ein sehr deutscher Dichter. Der Glaube an die Kraft des Geistes, wir wissen es, kam über zweihundert Jahre aus dem deutschen protestantischen Pfarrhaus. Auf diese Tradition hat sich Benn oft genug berufen. Daß er so radikal war in der Verteidigung seiner unerschütterlichen Thesen, seiner geistigen Position, das faszinierte seine Leser – fast bis heute. Daß diese erhabene Position der Geschichte angehört, steht ebenso fest wie die Tatsache, daß heute in nostalgischer Rückwendung gesucht wird, was verlorenging. Hier könnte sich ein neues Wirkungsfeld eröffnen, gerade bei den jüngeren Lesern. A la recherche du temps perdu.

Bruno Hillebrand, Nachwort

 

Gottfried Benn. Der Mann ohne Gedächtnis

Lesung: Holger Hof
Moderation: Jörg Magenau
Im Literarischen Colloquium Berlin am 13.12.2011

 

 

Tondokument: Peter Rühmkorf und Adolf Muschg über Benn und Brecht am 16.9.2006 in der literaturwerkstatt berlin.

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Carl Werckshagen: Gottfried Benn 60 Jahre
Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, 27.4.1946

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Max Rychner: Gottfried Benn
Die Tat, Nr. 120, 3.5.1956

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Adolf Muschg, Jürgen P. Wallmann, Edgar Lohner: Abschied von Gottfried Benn?
Die Tat, 29.4.1966

Zum 10. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: Kunst als metaphysische Tätigkeit
Die Tat, 2.7.1966

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Peter Rühmkorf: „Und aller Fluch der ganzen Kreatur“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1976

Zum 20. Todestag des Autors:

Gert Westphal: Gottfried Benn – nach zwanzig Jahren
Neue Zürcher Zeitung, 23.7.1976

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Albrecht Schöne: Gottfried Benn?
Die Zeit, 2.5.1986

Peter Rühmkorf: Gottfried Benn oder „teils-teils das Ganze“
Deutsches Sonntagsblatt, 6.7.1986

Zum 50. Todestag des Autors:

Wolfram Malte Fues: Nur zwei Dinge
manuskripte, Heft 174, 2006

Fakten und Vermutungen zum Autor + Nachlaß + Sammlung 1 + 2
KLG + Georg-Büchner-Preis
Autorenäußerungen zu Person und Werk von Gottfried Benn
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Nachrufe auf Gottfried Benn: Deutsche Rundschau ✝ MerkurAufbau

 

Gottfried Benn – das letzte und einzige Fernseh-Interview mit Gottfried Benn am 3. Mai 1956 zum 70. Geburtstag.

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