Davide Longo: "Die jungen Bestien"
Bleierne Jahre
Literarische Kriminalromane, also Romane, bei denen das Verbrechen zwar eine
wichtige, doch nicht alleinige Rolle spielt, führen oft eine Art Zwitterdasein,
weil sie den Liebhabern des genretypischen Kriminalromans beispielsweise zu
wenig Spannung bieten, was den richtig guten spannenden Kriminalroman überhaupt
nicht abwerten soll, während sie den Freunden der Belletristik dafür im Gegenzug
zu sehr Kriminalroman sind. Immer wieder haben es Autoren geschafft, hier Eines
mit dem Anderen in wunderbar harmonischer Weise zu verbinden:
Patricia
Highsmith,
Georges Simenon, James Sallis, Pete Dexter und auch der deutsche
Autor Friedrich Ani sind da beispielsweise unter den interessantesten Vertretern
dieser Gattung, während so manch einmaliger Ausflug literarischer Größen in den
Bereich des Kriminalromans oft eher mäßige Resultate hervorbringt (Jonathan
Lethem, Thomas Pynchon, ...).
"Die jungen Bestien" ist ein Roman, der wie
frühere Romane des Italieners Davide Longo ebenfalls in diesem Zwischenbereich
lebt.
Beim Bau einer Bahnstrecke stoßen die Bauarbeiter auf die Überreste
von insgesamt zwölf Leichen. Aus den oberen Etagen der Polizei spüren die
Ermittler sehr rasch den voreiligen Wunsch, diese Leichen dem Zweiten Weltkrieg
zuzuordnen. Kommissar Arcadipane ist bemüht, zu Beginn eher aus einer Art
Sturheit heraus, gegen diese Bemühungen zu ermitteln. Langsam kommen die
Ermittlungen in Fahrt, und Arcadipane holt seinen früheren Vorgesetzten Bramard,
den Leser der Romane Davide Longos bereits kennen werden, ebenso ins Boot wie
die unkonventionelle und wegen ihrer Art in den Innendienst versetzte Polizistin
Isa. Diese ist ein interessanter Mix aus Hackergenius und
Punksexappeal, von Davide Longo so kreiert. Vielleicht gar ein wenig zu
klischeehaft, auch wenn ihre Rolle letztendlich mit viel mehr Raum versehen ist,
als man zuerst vermuten würde.
Bevor der Roman allerdings richtig
spannend wird, beschäftigt sich Davide Longo vielleicht ein wenig zu ausführlich
mit der Psyche seines Kommissars, der doch mit einigen Problemen außerhalb
seiner Tätigkeit als Polizist beschäftigt ist.
"Er hat eine verrückte
Psychologin, hundert Euro weniger, eine in Tränen aufgelöste Tochter, einen
Schwanz, der nicht mehr will, eine Frau, die anfängt, ihn zu verabscheuen, und
nur eine Handvoll Lakritzbonbons in der Tasche, die ihn vom nächsten Weinkrampf
trennen." (S. 81)
Das wieder zusammengewürfelte Trio (bereits in
Longos "Der Fall Bramard" in dieser Besetzung tätig) findet bald heraus, dass es
sich bei einigen der Toten um Mitglieder einer linksradikalen Gruppierung
handelt, die anno 1977 einen Brandanschlag auf das Büro der neofaschistischen
Partei "Movimento Sociale Italiano" verübt hatte, bei dem ein Buchhalter zu Tod
kam. Damals bereits als junger Polizist in die Ermittlungen involviert war der
nun pensionierte Bramard. Obwohl er damals als verdeckter Ermittler in die
Tiefen der Szene eindrang, konnte der Fall nie geklärt werden.
Im
mittleren Teil des Romans widmet sich Longo der Zeit zwischen den späten 1960ern
und den frühen 1980ern. Er zeichnet die Ermittlungen nach und liefert dabei ein
Bild von Italien, das dem heutigen, vielleicht uninformierten Leser etwas an den
Haaren herbeigezogen scheinen mag, es aber leider nicht ist. Die sogenannten
"bleiernen Jahre", in denen viel zu viele Menschen durch links- und
rechtsradikale Anschläge getötet wurden und das Land fast immer am Rand eines
Bürgerkriegs zu sein schien. Dieser Teil ist sowohl in puncto Tempo als auch aus
ermittlungstechnischem Blickwinkel wirklich gelungen. Einzig die Tatsache, dass
der italienische Autor von einer grundlegenden Informiertheit über die damaligen
politischen Verhältnisse auszugehen scheint, ist etwas schwierig. Er ist auch
nicht bereit, seine wirklich überzeugende Prosa durch Erklärungen zu stören. In
dieser Hinsicht ist es jedenfalls eine wahre Freude, diesen genau ausgehörten
Roman literarisch zu genießen, selbst wenn man für das eine oder andere
Geschehnis "Google" bemühen muss. Seine präzise Sprache, deren Dialoge
an der einen oder anderen Stelle wie an eine akribisch ausgehörte und
ausgesparte Variante eines hingerotzten Hemingway-Dialogs erinnert, schafft so
auch eine überzeugende psychologische Komplexität. Selbst wenn Longo hin und
wieder zu weit in seiner sprachlichen Akribie geht und dadurch bisweilen den
soeben erst erreichten Lesefluss stört.
"Die jungen Bestien" ist ein
wirklich interessanter Roman, abschnittsweise spannend und gleichzeitig
literarisch anspruchsvoll und überzeugend.
(Roland Freisitzer; 04/2020)
Davide Longo: "Die jungen Bestien"
(Originaltitel "Così giocanto le bestie giovani")
Übersetzt von
Barbara Kleiner und
Friederike
von Criegern.
Rowohlt, 2020. 412 Seiten.
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