Bislang erschienen viele skandinavische Kriminalromane, und gerade die bekanntesten, als heillose Überforderung einer ebenso harmlosen wie banalen Gegend durch eine erfundene Gewalt. Das ist jetzt nicht mehr so, im Gegenteil: Diesen Büchern eignet jetzt etwas geradezu Seherisches zu. Für die brutal eingelöste Prophetie aber scheint es einen Grund zu geben, eine Ideologie, die sie trägt und die sich der mutmaßliche Massenmörder praktisch zu eigen machte: Warum etwa heißen die Romane Stieg Larssons (zwar nur auf Deutsch, aber doch treffend) "Verblendung", "Verdammnis" und "Vergebung", warum also spielen sie mit dem religiösen Modell von Sünde, Strafe und Erlösung?
Und warum sind auf den deutschen Ausgaben der Wallander-Romane (scheinbar willkürlich, aber genauso angemessen) barocke Darstellungen von Fegefeuer und Höllenqualen zu sehen? Weil sie von Feinden handeln, die die Gemeinschaft der Guten von außen bedrohen, weil sie vom Kampf mit diesen Feinden berichten, in Gestalt von Fegefeuer und von Jüngstem Gericht, und weil sie danach, wenn das Böse (bis auf weiteres) am Boden liegt, doch immerhin einen schwachen Schein von Erlösung sichtbar werden lassen.
So kommt es, oder genauer: so kam es, dass gerade die friedlichsten Gesellschaften die blutigsten Kriminalromane hervorbrachte: "Die verborgene Organisation, die uns die Möglichkeiten setzt und die uns kontrolliert, ist der Gegensatz zum Individualismus und sein natürlicher Feind", schreibt Tim Parks, und "der inkompetente, wenn nicht offen böse Staat fesselt uns in seinem bürokratischen Gewebe und ist immer der Komplize des organisierten Verbrechens".
In der Darstellung solcher Verhängnisse und, mehr noch, in der Schilderung der gewaltsamen Befreiung daraus erfüllen viele skandinavische Kriminalromane eine bemerkenswert soziale Aufgabe: In der Fantasie werden die der Gemeinschaft schädlichen Elemente erkannt und wirkungslos gemacht. So gesehen, sind diese Bücher immer auch Träume von Erlösung, und wenn die Gewalt - und gerade auch: die exzessive Gewalt - in ihnen eine so große Rolle spielt, hat damit zu tun, dass die Erlösung um so leuchtender ausfällt, je schrecklicher die Verdammnis zuvor war.
Von "Wahn" ist nun viel die Rede, wenn von den Motiven des mutmaßlichen Attentäters von Oslo und Utøya gesprochen wird. Wenn es aber Wahn sein soll, dann liegt dieser nicht in seinen politischen Überzeugungen, in seinem Widerstand gegen den Islam, die Globalisierung oder den "Multikulturalismus" - dazu sind diese Motive dann doch zu gewöhnlich. Sondern in seiner Entschlossenheit, diese Beweggründe in eine fantastische Weltanschauung aus Verschwörung und Verdammnis zu fassen - und sich selbst für den dunklen Erlöser, für den Vollstrecker eines Jüngsten Gerichts und den notwendig schrecklichen Boten einer neuen Ordnung zu halten. Und zur Tat zu schreiten.