Editorial

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 Literatur im Lichthof (Ausg. 5/2014) - Zoom

 

 

Bernhard Aichner: Totenfrau. Thriller.
München: btb 2014

"Endstation Dreckschwein"

© btb, 2014Bernhard Aichner ist am Zenit angekommen und strahlt. Am Bücherhimmel gibt es ja viele Gestirne, manche sieht man mit freiem Auge nicht, andere leuchten so stark, dass sie einen unübersehbar blenden, viele changieren irgendwo dazwischen. Wie es dazu kommt, ist jeweils interessant. Wie also kommt es bei diesem Autor zum unübersehbaren Funkeln?

Genre
Beginnen wir mit dem Genre. Seit Jahren boomen Krimis und Bernhard Aichner hat das längst erkannt und sich mit seinen Max-Broll-Krimis eingereiht. Er hat das ganz anders gemacht als etwa jetzt die Büchner-Preisträgerin Sybille Lewitscharoff mit ihrem Killmousky. Er weiß, was ein gut konstruierter Plot ist, wie man mit den Nerven von Lesern spielt, wie man ihren Intellekt nicht beleidigt. Kurz: Anders als seine Kollegin nimmt er das Genre ernst. Mit der Totenfrau schlägt er ein neues Kapitel seiner Buchkarriere auf. Geplant war ein Thriller, der marktmäßig noch ein wenig höher hinaus wollte. Er landete in Georg Simaders Agentur copywrite. Auf der Frankfurter Buchmesse 2012 wurde klar: Da haben sich zwei gefunden. „Aichner“ steht momentan also ganz oben auf einer Liste von an die 50 Autoren (edle Federn wie Helmut Böttiger, Alina Bronsky, Stephan Thome oder Jan Costin Wagner, Unterhaltsames und eben auch Krimi-/Thriller-Kaliber wie Anne Chaplet oder Wolfgang Kaes), die mit „(Johannes) Zacher“ endet – was, wie auf der Homepage des Berlin Verlags zu lesen ist, „das Pseudonym eines preisgekrönten Filmemachers und Krimiautors“ sei. Jedenfalls: Ausgewählten Verlagen wurde das Manuskript angeboten, fünf ritterten nach Lektüre von Exposee und erstem Kapitel ums Ganze, das „im Winter 2013“ zu Ende geschrieben war. Regina Kammerer, Verlagsleiterin bei btb, hatte sich am „nachhaltigsten“ interessiert, was auch bedeutet: Als Repräsentantin des Branchenriesen Random House hat sie immer einen dicken „Scheck“ zur Hand. Das war schon 1996 so, als btb, gegründet als Qualitäts-Taschenbuchreihe, selbst für hochliterarische DebütantInnen wie Bettina Galvagni (Melancholia) Vorschüsse bot, bei denen traditionelle Verlage wie dtv oder Fischer TB nicht mithalten konnten (und wollten). Die Startauflage liegt hier bei 50.000 Exemplaren, eine ziemlich beeindruckende Zahl, die klarmacht, dass der Verlag weiß, wohin er will. Dennoch: Das Feld ist keineswegs bereits bestellt. Wenn man den randomhouse.de-Newsletter vom März 2014 erhielt, waren bereits hier sieben Genre-KollegInnen gelistet, und einer darunter war John Grisham. Geht man über das eigene Verlagshaus hinaus, verzigfacht sich die Konkurrenz. Aber: Der Einverkauf im Buchhandel war gut, die Totenfrau landete auf den österreichischen Bestseller-Listen zwischen dem neuen Glattauer und dem Dauerbrenner Jonassen. Und sie blieb vorläufig dort.

Materie
Rein äußerlich kommt das Buch in schmuckem schwarzem Gewand daher, weiße und rote Typographie machen klar, dass es sich um eine black story gewichtigen Umfangs handelt, gerade so viel, als gut in der Hand liegt. Ein Lesebändchen ist angebracht, nur für den Fall, dass man das ganze Buch nicht ohnedies auf einen Sitz ausliest.

Content
Die Krimiflut ist also noch nicht verebbt und füllt - übrigens gemeinsam mit historischen Stoffen von „Borgia“ bis „Sarejevo“ - verlässlich das breite, internationale Leserbecken auf. „Social Fiction“ könnte als nächste Sprudelquelle folgen, wissen die Fachleute - und die kommen in diesem Fall nicht von der Literatur, sondern vom Film. Aber zurück zum Inhalt: Den kann man getrost von http://www.100-beste-bestseller-buecher.de/ abschauen, um nicht zu sagen: „abgucken“. Dort wird deutschen LeserInnen Bernhard Aichner: Totenfrau folgendermaßen empfohlen:
„Ein dunkler Thriller diese Woche auf Platz 2 der österreichischen Büchercharts: Totenfrau von Bernhard Aichner. Protagonistin ist Frau Blum, die uns zunächst als liebevolle und fast gütige Person vorgestellt wird. Von Beruf Bestatterin ist sie eine hingebungsvolle Mutter mit Humor und Herz. Als ihr Mann - ein Polizist - bei einem Unfall ums Leben kommt, gerät ihr Leben aus den Fugen. Sie selbst sieht, wie ihr Mann überfahren wird und der Täter Fahrerflucht begeht. Als sie durch Zufall herausfindet, dass der Unfall kein Unfall war, sinnt sie auf Rache. Kalt und mit der Präzision einer Maschine prüft sie die Hintergründe und schlägt dann unerbittlich zu. Ingrid Noll schreibt: ‘Die Totenfrau von Bernhard Aichner ist ein äußerst spannender, atemlos geschriebener Thriller. Ich konnte ihn nicht mehr aus der Hand legen.’ Das ist schon mal richtig. Der Schreibstil ist schnell, geradezu atemlos.”
Das ist auch schon mal wichtig, was Frau Noll hier sagt. Eine andere Dame meint: „Sie denken, Lisbeth Salander ist tough? Warten Sie, bis Sie  die Totenfrau gelesen haben…” Und eine dritte: „Endlich: eine Kampfansage an unsere skandinavischen Krimis.” Das sind nun alles keine Branchen-Nobodys, deren Sprüche Buchrücken und -klappe zieren: Die eine spricht für Rizzoli, die andere für Cappelen Damm, einen italienischen respektive norwegischen Branchenriesen. Eine amerikanische, eine britische, eine französische, eine griechische, eine niederländische, eine polnische und eine spanische Übersetzung werden erscheinen, und alle bei aussichtsreichen Verlagen! Das muss mit dem Inhalt zusammenhängen, und ein wenig wohl auch mit dem Verkaufsgeschick der btb-Leute. Christian Berkel liest übrigens das Hörbuch - auch nicht schlecht. Aber am meisten liest wohl der Autor selbst: Es gibt eine ganz fette und urlange Terminliste, für deren Abarbeitung man schon ziemlich robust sein muss. Ja, und um Filmrechte wird auch gedealt. Alles am Laufen also.

Stil- und Traditionsfragen
Schon einmal überlegt, einen Menschen umzubringen? Nicht im Affekt, wo man hinterher Indizien und Beweise und Alibis zurechtschustern muss, sondern geplant. Blum stellt fest: „Sie hatte das so oft im Fernsehen gesehen, in Büchern gelesen.” Ein Beispiel: „Wenn du nicht willst, dass deine Geschichte ins Fernsehen kommt, dann hör jetzt gut zu. Ich weiß alles … Es gibt Beweise, und diese Beweise liegen bei einem Notar. Wenn ich mich nicht bei ihm melde, wird er die Unterlagen an die Medien geben. Hast du das verstanden?“ (Blum) Vorbild: „Solltest du jemals wieder Kontakt zu mir aufnehmen, dann landen Kopien dieser CD bei jeder Zeitungsredaktion in Stockholm. Kapiert?“ (Salander) Bei Stieg Larssons Lisbeth ist es nicht anders als bei Aichners Brünhilde: Auch sie hat sich Tricks abgeschaut: „Guckst du dir Insider auf TV3 an? Solche Rucksäcke wie diesen hier benutzen die cleveren Reporter, wenn sie etwas mit versteckter Kamera aufnehmen wollen.“ Im wirklichen Leben ist es eben wie in Filmen und Büchern oder umgekehrt oder in Filmen und Büchern wie in Filmen und Büchern. Das hat Bernhard Aichner legitimerweise mitgedacht. Stilistisch ist Aichner von Larssons unprätentiösem Erzählstil weit entfernt. “Bei Aichner fliegt man atemlos hinterher. Weil Aichner wie mit einer Nähmaschine ansatzlose Sätze in die Seiten schlägt. Selten sind sie länger als fünf Wörter. Selten sind die 51 Kapitel länger als fünf Seiten. Reflektiert wird wenig, moralisiert gar nichts, gesehnt, gefühlt ein bisschen zu viel. Psychologie findet kaum statt“, konstatiert die Literarische Welt. Was natürlich nur sehr teilweise stimmt, aber immerhin gut klingt. So einfach gestrickt ist das Ganze nämlich nicht, dieses Sog entwickelnde Präsens, dieses hechelnde Perfekt, diese schnappatmigen Satzellipsen und duellierenden Dialoge. Blum ist auch keine „Jeanne d'Arc der neuen Selbstjustiz”. Ihr Rechtsempfinden ist nicht neu, sondern vielmehr alt. Der abgrundtiefe Furor von Aichners Heldin kommt aus einem Urgrund im Autor selbst: Er hat, so erzählt er freimütig auf einem Video, Der Graf von Monte Christo gelesen. Und darin geht es nun um einen ziemlich groß angelegten Rachefeldzug. Daher kommt offenbar Blums feeling. Mich selber hat das an Michael Kohlhaas denken lassen, und abgesehen davon an ein weiteres Kleistsches Motiv. Der offiziell ermittelnde Innsbrucker Polizist ist nämlich der Mörder von Blums Mann. Hier lässt Der zerbrochene Krug grüßen. Wobei: Der Ermittler heißt nicht Adam, sondern Massimo Dollinger. Mit diesem letzten Brandopfer, das er abgibt, ist Blums Rachedurst dann gestillt: Endstation Dreckschwein.

Wenn alles gut gegangen ist, und das hoffe ich, hat sich ihr Mörderreigen für Bernhard Aichner richtig gelohnt. Gratulation!

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Bernhard Sandbichler
 
 


 

Josef Feichtinger: Kämpfen für das Heiligste. Tiroler Stimmen zum Ersten Weltkrieg. Mit einem Vorwort von Oswald Überegger und einem Audio-Feature unter der Regie von Luis Benedikter.
Bozen: Edition Raetia 2013

© Edition Raetia, 2013Gleich vorweg: Josef Feichtinger legt hier eine bewundernswerte Sammlung von Texten bzw. Textauszügen aus Romanen, Tagebüchern, Erinnerungsschriften, Zeitungen und Zeitschriften vor. Was in diesen erschreckenden, irritierenden, skurrilen Dokumenten zu lesen ist, bestätigt selbstverständlich, was schon längst landläufig bekannt war, dass nämlich der Erste Weltkrieg auch ein großer Propagandakrieg war und dass viele bedeutende Persönlichkeiten an der geistigen Mobilmachung mitgewirkt haben. Dass dies ein Bruder Willram in reichlichem Maße getan hat, ist schon seit längerem durch die Forschungen von Eberhard Sauermann dokumentiert. Dass sich aber auch sein Priesterkollege Reimmichl als fanatischer Kriegstreiber betätigt hat, rückt erst dieses Buch voll ins Bewusstsein. Als populärer „Botenmann“ – er gab den „Tiroler Volksboten“ gemeinsam mit dem Geistlichen Josef Grinner heraus – brachte er seine Botschaften bis zu den einfachen Menschen, die seiner Predigerlogik und Demagogie wohl wenig entgegenzusetzen hatten. Schon im August 1914 konstatiert Reimmichl einen neu erstarkten Patriotismus im Vielvölkerstaat, „eine großartige religiöse sittliche Erhebung“ (S. 28), die sich durch vermehrtes Kirchengehen und Beichten anzeigt, gar Sozialdemokraten will er da gesehen haben. Volksbelustigungen und Touristen verschwänden samt ihrer unzüchtigen Kleidung, Einfachheit, Sparsamkeit und Opfermut kämen wieder auf. 1918 ist plötzlich von den Verheerungen des Krieges die Rede, von Unsittlichkeit, vom Zusammenbruch der Religion. Feichtinger hat – wie auch bei vielen anderen Texten – einen süffisanten, kritischen Kommentar dazu verfasst: „Wo ist der ‚Völkerfrühling‘ geblieben und die ‚großartige sittliche Erhebung der Völker‘? Die ‚Botenmänner‘ setzen auf die Vergesslichkeit ihrer Leser.“ (s. 29)

Doch Willram und Reimmichl sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Namen derer, die literarische Kriegspropaganda gemacht haben, Männer wie Frauen, sind Legion. Hier seien willkürlich einige namentlich genannt: Marie von Buol, Rudolf Greinz, Karl Emerich Hirt, Franz Kranewitter, Bartholomäus Del Pero, Klara Pölt-Nordheim, Karl Zangerle. Natürlich sind in den Texten deutliche Unterschiede und Abstufungen in der Motivation zu bemerken; manche mögen tatsächlich für die Ermunterung der Soldaten und der Menschen im Hinterland gedacht gewesen sein und auch als solche gewirkt haben.

Als Gegengewichte zu den vielen martialischen tirolischen Äußerungen hat Feichtinger immer wieder kriegskritische Texte eingebaut, u.a. von Karl Kraus, Kurt Tucholsky, Hermann Hesse. Aber es gibt, wenn auch wenige, kritische Stimmen aus Tirol, die der Kriegsverherrlichung nicht das Wort reden. Etwa Georg Gallmetzers Tagebuchaufzeichnungen, die freilich erst 1999 erschienen sind und also nicht der Zensur unterlagen. Er kritisiert immer wieder unverblümt seine inkompetenten Vorgesetzten, auch wenn er anfänglich auch von der patriotischen Begeisterungswelle mitgenommen wird. Auch Kriegsgräuel schildert er offen und scheut sich nicht, die vielgeschmähten Russen mit den Österreichern zu vergleichen.

Und da ist auch Ludwig von Ficker mit den Briefen an seine Frau Cissi, an Kraus und Ludwig Wittgenstein, und einige seiner „Brenner“-Mitarbeiter: Georg Trakl mit „Grodek“, Theodor Haecker mit seinem Essay „Der Krieg und Führer des Geistes“, Carl Dallago mit seiner Broschüre „Ueber politische Tätigkeit, den Krieg und das Trentino“ und seinen Gedichten, Josef Leitgeb (der seine Jugend im Weltkrieg verlor und dann auch noch den Zweiten Weltkrieg aktiv mitmachen musste) mit seinen Kriegserinnerungen, Richard Huldschiner, dem mit seinem Text „Standschützen auf der Wacht“ laut Feichtinger „eine der schönsten Schilderungen aus dem Krieg“ gelingt. Doch war da auch noch ein Joseph Georg Oberkofler, der das Leid der Mütter ganz im katholischen Sinn durch die Unterwerfung in den Willen Gottes sublimieren lässt (laut Feichtingers spitzigem Kommentar) und ein Arthur von Wallpach, dessen Gedichtband „Wir brechen durch den Tod“ eine Fundgrube für Feichtinger war, denn für Wallpach war der Krieg lange Zeit ein „frohes Fest“, der Kampf eine echte Bewährungsprobe für die Männer.

Feichtinger hat versucht, seine Texte thematisch zu gliedern: Der Anfang, Militärs, Feinde, Religion, Tirolismus, Frontalltag, Frauen im Krieg, Kriegsopfer, Zusammenbruch. Diese Gliederung hat selbstverständlich ihre Tücken, Überschneidungen sind vorprogrammiert. So kommt es zu Wiederholungen, manchmal wohl auch dadurch bedingt, dass Feichtinger seine vielen Funde eben auch unterbringen wollte, was verständlich ist, wenn man sich die große Arbeit vor Augen hält, die in dieser Auswahl und Zusammenstellung steckt. In manche bio-bibliografische Angabe, die jedem Autor einer derartigen Sammlung wie immer in letzter Sekunde noch abgerungen wird, haben sich einige Fehler eingeschlichen. Es ist eben ein nicht unwesentlicher Unterschied, ob Dallago seine Kritik an Mussolini „Die Diktatur des Wahns“ 1938 verfasst hat, oder richtig schon zehn Jahre früher, 1928.

Als letztes Kapitel hat Feichtinger Texte zusammengestellt unter dem Titel „Vom Weltkrieg in den Weltkrieg“.  Eindrucksvoll wird vorgeführt, wie nahezu zwangsläufig der Zweite Weltkrieg auf den ersten folgte. Und da waren es die Weltkriegsromane eines Anton Graf Bossi-Fedrigotti, eines Luis Trenkers, eines Karl Springenschmids, eine Oswald Menghins – Dokumente des „Militarismus“, die laut Feichtinger bereits den „Trommelklang einer kommenden Zeit“ (des Nationalsozialismus) hören, die „das Soldatentum der Deutschen“ verherrlichen.

Dem Buch beigelegt ist eine CD, betitelt mit „Der Heilige Krieg“, konzipiert und gestaltet von Jutta Wieser (Aufnahmeregie und Sprecher: Luis Benedikter). Schauspieler lesen Texte aus dem Buch, es gibt aber auch historische Aufnahmen, etwa von Kaiser Franz Joseph und Viktor Dankl, Interviews mit Josef Feichtinger und Ulrike Kindl, die eindeutige Aussagen zum Krieg macht: „Es gibt keinen Krieg, der verteidigt werden kann, der gerecht ist. Es gibt nur unfähige Politiker, die einen Krieg nicht verhindern können.“

nach obenAnton Unterkircher
 



 
Sabine Gruber:
Zu Ende gebaut ist nie. Gedichte.
Innsbruck: Haymon 2014

© Haymon, 2014Mit Zu Ende gebaut ist nie − bei Haymon in einer bibliophilen Ausgabe erschienen – legt Sabine Gruber ein sehr persönliches Buch vor. In nur 14 Gedichten, auf wenig Raum also und mit sparsamen Mitteln, beleuchtet die Autorin Aspekte einer omnipräsenten Vergänglichkeit. Außenansichten und Innenschau werden kontrastiert; Blendung und Lüge einerseits, Ernüchterung und die Erfahrung von kalter Leere andererseits ziehen sich leitmotivisch durch die Gedichte. Vor allem aber ist es der hinter allen Masken lauernde (physische und seelische) Tod, in dessen Zeichen der Zyklus steht. Es ist der barocke Vanitas-Gedanke, der hier in einer aktuellen, gleichermaßen reduzierten wie reflektierten Form neu formuliert wird.
Gruber nähert sich ohne Berührungsangst schwierigen Emotionen, befragt und ergründet sie mit analytischem Blick. Der distanzierte Blick des lyrischen Ichs fällt ins eigene Innere, auf die eigene Sprache. Schonungslos direkt sind im Gedicht Geschenktes Leben, das den Zyklus eröffnet, die Fragen an sich selbst:

Ich schau in mich, wie in die Trommel.
Monotones Rotieren im Schongang.
Klopf mir ans Glas. Wieviel Farbe
Ist schon verloren? Geht die Wäsche
Ein? Tummeln sich die Fetzen? […]

Das Gedicht endet ohne wirkliche Antworten. Haben sich die Antworten erübrigt? Will das Ich dem Ich nicht antworten? Die Verse suggerieren die Existenz zweier divergierender Ichs: eines strengen, das mit bohrenden Fragen aufwartet, und eines anderen, das sich die Erlaubnis erteilt, die Antworten nicht zu formulieren, das sich selbst gewissermaßen so sein lässt, wie es ist, das sich den provisorischen Charakter seiner Existenz und seiner Wahrheiten zugesteht:

Am Ende darf ich wieder probe
Liegen. Hör ich die Pumpe,
Hör die Trommel fliegen.

Indem das Gedicht unergründliche Paradoxa gleichzeitig sein lässt, erfasst es einen Moment psychischer Realität.
Auch die folgenden Gedichte holen die Schattenseiten der Emotionen herauf an die sprachliche Oberfläche und belassen sie hier als integralen Bestandteil der Wirklichkeit. Diagnosis, so der programmatische Titel des zweiten Gedichts, erkennt die Wirklichkeit, noch ehe sie eintrifft: Auch jener Freund wird bald verschwinden … Das grammatische Futur bezeichnet das Verschwinden als noch nicht eingetroffen, während das Pronomen jener den Freund schon in weite Ferne rückt. Schon jetzt, im Präsens, erschaudert das lyrische Ich vor Kälte: Mir zittert das Gesicht im Frost.
Zu den schwierigen Emotionen gehören die Trauer über das Vergehen der Zeit, die Enttäuschung (Diagnosis, Falsche Freunde), das Gefühl von Vergeblichkeit (Zu Ende gebaut ist nie) und von Vermessenheit (Vermessen), die Erfahrung von Leere (Nichts), die Angst vor dem Tod (Es kommt der Tod), das Abgestoßensein vom oberflächlichen Treiben ringsum (Im Wirtshaus), das Entsetzen und die eigene Ohnmacht angesichts des politischen Geschehens (Brandenburg – Lampedusa), die Trauer über den Tod von (wirklichen) Freunden und den unwiederbringlichen Verlust der Kindheit (Vinschgau, immer noch).
In formaler Hinsicht ist der Zyklus der Ästhetik der Moderne verpflichtet, welche seit der Romantik in der sprachlichen Darstellung von Gefühlen diese eher dekonstruiert als emphatisch besingt. Wiewohl von Emotionen handelnd, ist Grubers Sprache von emotioneller Zurückhaltung geprägt. Sie vermeidet das Pathos und bevorzugt die „Brechung“ der großen Gefühle in einzelne Facetten. So wie der Blick des lyrischen Ichs nach innen geht, so sind auch die sprachlichen Bewegungen gewissermaßen nach innen gerichtet, ereignen sich in zurückgenommenen Gesten, die weder auf Berührung zielen noch auf aggressives Schockieren. Grubers lyrischer Ton hat den Klang einer ruhigen Reflexion. Er ist frei von allem Grellen, verzichtet auf allzu offenkundige Wohlklänge, aber auch auf irritierende Härten. Es gibt Konzessionen an die sprachliche Tradition (die Groß-und Kleinschreibung, die Großbuchstaben am Versbeginn), so wie es plötzliche Abweichungen von der Norm in der Zeichensetzung und in der Satzgrammatik gibt. Auffallend sind die vielen autoreferentiellen Momente, in denen das poetische Sprechen selbst thematisiert wird. Attestiert wird der eigenen Sprache die Kälte, eine verschwiegene Beredsamkeit, eine „Bewegtheit“, die nur am Rande zu spüren ist: Die Sprache schneit, unablässig schweigt sie / Neues hervor, wirbelt an den Rändern. Es ist eine Gedankenlyrik, die die großen, „ewigen“ Themen auf vierzehn Gedichte zu konzentrieren weiß, die sie weder tragisch erhöht noch ironisch bricht. Das emotionelle Substrat des Zyklus ist eine gebändigte Melancholie.
Der Band endet mit einem zärtlichen Gedicht. Vinschgau, immer noch ist Gabriel Grüner gewidmet. Grüner, ein gebürtiger Südtiroler, geboren in Mals im Vinschgau und – wie die Autorin selbst – am Etsch-Fluß aufgewachsen, wurde als Reporter für das Magazin Stern 1999 − einen Tag nach dem offiziellen Ende des Kosovo-Krieges − von einem fanatischen Albaner-Hasser ermordet. Im poetischen Raum der Erinnerung gehen der Schmerz um den verlorenen Freund, die Schönheit des Tals und das Bewusstsein eines allgegenwärtigen Verfließens ineinander über:

Dein Vater hatte mich einmal
Apfelbäurin genannt, obwohl wir
Nie einen Baum besaßen, nur
Wörter setzten, in Blei und frei.
Als wüßte er, der Förster, um die
Weitausladenden Gedanken,

Um die Wortstützen, die uns
Hielten, damit wir nicht zu Boden
Gingen. […]

Hier, im letzten Gedicht, werden die zentralen Motive enggeführt: der omnipräsente (zu frühe) Tod, die Erinnerungen, die Sprache: Unser Wortgut im Etsch-Fluß. Sabine Grubers lyrisches Ich ortet seine Sprache im fließenden Element. Die Wörter sind wie Treibgut, sind losgerissen aus den ursprünglichen Kontexten, abgebrochen, zerbrochen, sind schmuckloses Material, das ab-  und wieder auftaucht, von der Oberfläche der Erscheinungen in die Tiefe und wieder retour. Im fließenden Element der Poesie vereinen sie sich zu neuen Konstellationen. Grubers poetische Wörter haben den eigentümlichen Glanz  von im Wasser tanzendem Treibgut. Ich habe dich auf der Zunge. Dieser Vers beendet den Zyklus. Er hat den Geschmack von Liebe.

Enach obenleonore De Felip

   


 

Irene Heisz, Julia Hammerle: Tirol - hoch hinaus und tief verwurzelt. Von Zugspitzblick bis Aguntum.
Meßkirch: Gmeiner 2014

Magische Zahlen für Reisende

© Gmeiner, 2014“Neapel” oder wahlweise “Rom sehen und sterben” ist ein irreführendes geflügeltes Wort. Patricia Schultz hat den Sager schon vor Zeiten vertausendfacht: 1000 Places to see before you die heißt ihr millionenfach verkaufter Wälzer. 36 ist eine weitere Zahl, die im Sektor Reiseempfehlungsliteratur auftaucht, vom Taschenverlag in rot gefärbtes Leinen gebunden, auf das in seriöser Fraktur der Schriftzug “The New York Times” geprägt ist. Es geht um 125 Wochenenden in Europa, welche diverse schreibende Kapazunder des Traditionsblattes den LerserInnen auf 4 bis 6 Seiten in Wort und Bild anempfehlen - schließlich sind die Wochenend-Trips auf jeweils 36 Stunden Aufenthalt anberaumt.

Neuerdings gesellen sich zu diesen magischen Zahlen noch 66 und 11. Es handelt sich nicht um ein neues Parfum, sondern um ein “Lesebuch für Einheimische, Besucher und Neugierige”, das 66 Lieblingsplätze und 11 Ausgehtipps einer Region vorstellt, selbstverständlich in Wort und Bild. Die Region heißt für dieses Mal Tirol, die Autorin Irene Heisz, die Fotografin Julia Hammerle. Außen kommt das Softcover noch in Hochglanz daher, innen findet sich ein Werkdruckpapier, ganz so, wie es sein soll und fachmännisch bezeichnet würde “mit natürlicher Anmutung, mit augenfreundlicher  Färbung und griffsympathischer Oberfläche”. Kurz: Ein ideales Papier zum Lesen.

Was äußerlich vielversprechend ist, hält inhaltlich stand: Auf den linken Seiten wunderbare Fotos, auf den rechten wunderbare Texte. Man findet durchwegs Aufnahmen, die den aussagestarken Moment gesucht, erwartet und gefunden haben; liest gebannt Schreibporträts, die an stilistischer Griffigkeit, sachlicher Präzision und persönlicher Zuneigung nichts zu wünschen übrig lassen. Dass es um beidseitige Lieblinge geht, spürt man, und für die gibt es obendrein noch 77 gewitzt formulierte Titel!

Das Gestaltungsprinzip links/rechts kommt, soweit ich sehe, dem einer Tiroler Kulturzeitschrift nahe. Hier findet sich diese Dualität - wie erwähnt - sechsundsechzigmal und noch elfmal für jene Ausgehtipps, die Tirols einzige Groß-, Haupt- und natürlich Weltstadt betreffen, nämlich Innsbruck. Irene Heisz hat diese unlängst als “besenreine Kleinbürgerstadt” tituliert - an anderem Ort freilich. Und auf diesen 67. Ort wollte ich noch außertourlich hinweisen: Er ist eine Kolumne, heißt “Heisz serviert”, ist auf http://www.zauberfuchs.com/ zu finden und könnte durchaus ein Lieblingsplatz werden.

Man wird sicherlich ruhig sterben, selbst wenn man nicht alle diese 67 Lieblingsplätze besucht hat. Niemand wird schließlich so unverfroren sein, zu behaupten, dass man seine Ruhe erst finden wird, wenn man dieses Buch bzw. diese Online-Kolumne gelesen hat. Aber wer weiß? Ich würde es nicht darauf ankommen lassen.

nach obenBernhard Sandbichler 

 



Ju Innerhofer: Die Bar. Eine Erzählung.
Berlin: Metrolit 2013

Müh und Arbeit, Party und Spaß

© Metrolit, 2013“Unser Leben währet siebenzig Jahr, und wenn’s hoch kömmt, so sind’s achtzig Jahr, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Müh und Arbeit gewesen.”
Diese desillusionierende Lebenssicht, die Heinrich Schütz in seinen Musikalischen Exequien vertont hat, ist dem Psalm 90 entnommen, Martin Luther hat übersetzt.
Wie könnte diese Lebenssicht in heutiger Zeit aussehen?
Vielleicht so:

Die
  P
  a
  r
  t
  y
  IST vorBEI.
  Over and out.

In dem Fall wird nicht aus einer “teutschen Begräbnis-Missa” zitiert, sondern aus der Erzählung Die Bar. Das Titel gebende Szenelokal ohne Namen steht im Mittelpunkt von Judith Innerhofers cool designter Prosa - knapp, hechelnd, speedy und auch ein wenig trashy. Erschienen ist dieser Hoch- und Abgesang auf eine Episode des sich täglich wiederholenden nächtlichen Abfeierns 2013 im Berliner Metrolit Verlag. Wir besprechen sie hier also mit einiger Zeitverzögerung und auch aus geografischer Distanz: Nur wahrhaft Berlin-Affine in unseren Breitengraden dürften die legendäre Berliner Bar 25 am Spreeufer in Friedrichshain frequentiert haben, nur wenige werden hier bedauern, dass dieser offenbare Tempel des Hedonismus (Sex, Drugs und keine Ahnung, welche Musik) dort 2010 dicht machte. Aber was Schütz vor nahezu 400 Jahren vertonte und Luther vor noch mehr Jahren übersetzte und der Verfasser des Psalms Gott weiß wann niederschrieb - gilt heute noch und lohnt auch heute noch, bedacht zu werden. Eben!

Am Schluss jedenfalls (und mit dem obigen Party-Zitat ist diese Erzählung wirklich aus), wenn die Tage heruntererzählt sind und der Countdown vorbei ist, welche die Kapiteleinteilung übernehmen, am Ende herrscht Katerstimmung: Die Bar ist gestorben, “Tränen am Ende, nach einer zerplatzten Seifenblase”. Kein Gott weit und breit, wie noch zu Luthers Zeit, der mit Blick aufs Jenseits trösten könnte! Jan, “mein Rückhalt, meine Gewissheit, mein Fixpunkt in der Schnelllebigkeit … kippt zurück. Erlischt. Einfach so”, schluckt Mia, die Bar-Schichten abspulende Erzählerin. Jetzt ist sie völlig ohne Orientierung. Allein Victor, der dritte Nachtvogel, erkennt so etwas wie das Jenseits im Diesseits: “Victor meint, er gehe jetzt. Vielleicht einfach in den Club schräg gegenüber. Da soll noch was los sein.”

Wo so viel Trauer herrscht und wenig Hoffnung - “Du wirst mich niemals weinen hören”, beharrt Mia am Ende -, da muss auch Köstlichkeit gewesen sein. War ja auch, auf den Seiten vorher: immer wieder ein Klarer, immer wieder Koks, und wenn Besuch aus Wien angesagt ist, also “dauernd”, sowieso das Klischee, “dass hier 24/7 gefeiert wird”. Aber bei all dem dennoch schon früh die barocke Erkenntnis: “Alles ist zerbrechlich. Nichts für immer.”

Judith Innerhofer, gebürtig aus Sand im Tauferer Ahrntal, hat sich dieses Buch abgerungen, Prosa, die über die lange Strecke von 200 Seiten halten soll. “Ich muss überzeugen. Ich will bewegen. Wer nicht bewegt, hat schon verloren”: Das ist nicht ihr persönliches Credo, sondern jenes von Media Consult Wien/Berlin, ein Unternehmen, für das die Autorin im wirklichen Leben arbeitet. Laut Selbstbeschreibung ist diese Firma “radikal”: “Nur was ankommt, zählt für uns. Nur was verstanden wird. Nur was bewegt. Um zu bewegen, sind Tabellen, Statistiken und Textwüsten wertlos. Wir wollen nicht nur in die Köpfe. Wir wollen auch in die Herzen.”

Na, wer möchte das nicht, darf man fragen. Natürlich möchte das auch Judith Innerhofer, und sie stellt sich dabei durchaus professionell an. Das habe ich verstanden. In mein Herz ist sie zwar nicht vorgedrungen, aber sie gibt mir zumindest zu denken. Sollte sie sich jemals zu einem weiteren Buch durchringen - was (zum Schreiben) viel Zeit nimmt und wenig einbringt -, werde ich es lesen. Why not?!

nach obenBernhard Sandbichler
 


  

Gerhard Kofler: Das Universum der kostbaren Minuten / L‘ universo dei minuti preziosi. Band 1 der Trilogie Gedächtnis der Wellen / La memoria delle onde.
Innsbruck: Haymon 2014

© Haymon, 2014Im Nachhinein liest man die letzten Texte oder Gedichte eines Autors oft im Hinblick auf Hinweise auf den nahenden Tod. Diese müssen nicht immer sichtbar sein und doch bekommt man beim Lesen dieses Gedichtbandes von Gerhard Kofler den Eindruck, dass das Lebensende des lyrischen Ichs spürbar näher gerückt ist. Eine gewisse Melancholie breitet sich in den Versen aus, sie wird in mehreren Gedichten auch explizit benannt, immer wieder schaut das Ich auf vergangene Tage zurück, das Sich-Erinnern wird zunehmend präsent, der Blick in die Zukunft kürzer.  Die Frage nach dem Ziel der Reise drängt sich auf, „wo bin ich angekommen? / dove sono arrivato?“ (16/17),  der Lebenszyklus kommt verstärkt ins Bewusstsein, die Kindheit und der Vater, der Aufbruch und eine Vorahnung vom Antritt der letzten Reise. Mehrere „genuin Kofler‘sche Motive“ (220 Brugnolo/Drumbl im Nachwort) kehren in diesem kostbaren poetischen Buch, das vierzig Gedichte aus dem Nachlass des Autors vereint, in Variationen wieder: das Meer, die Reise, die Sprachen, der Gesang.
Das Buch trägt den Titel Das Universum der kostbaren Minuten / L‘ universo dei minuti preziosi. Es ist der erste Band der vorgesehenen Triologie Gedächtnis der Wellen / La memoria delle onde, die von Furio Brugnolo und Hans Drumbl ediert wird. Anstelle eines Nachwortes geht ein deutsch-italienischer Kommentar auf die Entstehung der Gedichte sowie auf den Prozess der Edierung ein.
Das Meer, das Wasser, das Flieβende und das sich Bewegende bestimmen diesen Gedichtband, seinen Titel und sein Cover. Die Liebe zur See, die das lyrische Subjekt mit der väterlichen Figur verbindet und die in einem früheren Gedicht Radici ancora / Wurzeln weiterhin sogar die Brücke schlägt zum Groβvater (aus dem Band: Selbstgespräch im Herbst. Soliloquio d’autunno. Gedichte. Innsbruck: Haymon Verlag, 2005: 28-29), erscheint immer wieder als zentraler Topos und zunehmend wird auch die Erinnerung an frühere Erlebnisse mit dem Meer zum Thema. Dietro le onde / Hinter den Wellen macht diese Erinnerungen spürbar, die erlebte Kindheit mit dem Vater am Meer, die damals noch bestehende Neugierde und das Fortleben einer Heiterkeit jenseits der Kindheit und des Todes, jetzt, wo der Vater bereits „dietro le onde / hinter den wellen“ (48/49) ist. Die Möglichkeit, irgendwann die Welle zu finden, wenn das Singen einmal dem Ende zugeht, wird im Gedicht Orfeo di nuovo parla con Ulisse / Orpheus redet wieder mit Odysseus (16/17) angesprochen und es ist von einer Ankunft die Rede, die auf die letzte Ankunft hindeutet. Die Stimmen des Gedichtes sind eng mit dem Meer verwoben (194/195), die Gedanken mit den „sette mari / sieben Meeren“ (172/173) und auβer Zweifel steht, dass im Gegensatz dazu das Festland wenig zu bieten hat: „terra / ferma / non / convince, festes / land/überzeugt / nicht 122/123). So reist das Ich fortwährend und sieht in der Reise seinen wesentlichen Lebensinhalt. Dementsprechend offenbart das Gedicht Neruda in viaggio / Neruda auf der Reise (164/165): il nostro mondo/era questo / volo / viaggio / canto / semplice /e saggio; unsere welt /war diese / flug / reise / gesang / einfach / und weise). Ebenso sind die Übersetzungen als Reisen an die Orte der Sprachen zu verstehen, im Gedicht Lingue in Vita/Sprachen am Leben heiβt es: se mi ritrovo / in altre lingue / questo / è il più bel viaggio / di poesia; finde ich mich / in anderen sprachen wieder / da ist dies / die schönste reise / der poesie (46/47). Gerhard Kofler hat als konsequenter Selbstübersetzer von der Wahlsprache des Italienischen zurück in die Muttersprache Deutsch einen spannenden poetischen Weg begangen. Sein der Nachwelt hinterlassenes Werk ist vielschichtig und originell. Die Reflexionen über Übersetzungsprozesse ermöglichen dem Leser einen Blick in die Welt dieses mehrsprachigen Poeten, für den ein semantischer Inhalt im Gedanken immer gleichzeitig unterschiedliche Wortformen annimmt. In der Ballata della casetta crollata/Ballade des eingestürzten Hauses (76/78), die die Erinnerung an das Ende der Kindheit thematisiert, wird ein Sprachspiel durchgeführt, das das Genus der Wörter in unterschiedlichen Sprachen (italienisch, deutsch, französisch, spanisch) vergleicht und die Stimme des Gedichtes daraus schlussfolgern lässt: Die Wörter wechseln Geschlecht, sind bisessuale / bisexuell: la luna / der mond, il sole / die sonne. Der Klang der Sprachen, das Gedichteschreiben als ein Singen, der Poet als ein Sänger – diese Motive setzt Gerhard Kofler auch in diesem Band fort.  Das Spiel mit den Klangfarben der Wörter, das den Gedichten Musik verleiht, kommt besonders in den italienischen Gedichten zum Ausdruck: So die wiederholte Verwendung von Doppellauten und die Alliteration im Gedicht Cornacchia rotondeggiante / Krähe rundförmig: mi sento messo mosso e commosso (6), im Deutschen dann nur mehr durch die Alliteration wiedergegeben: ich fühle geworfen in gang und gerührt mich (7). Die ersten 6 Verszeilen werden in diesem Gedicht in unterschiedlicher Reihenfolge wiederholt, so dass ein Zyklus entsteht, ein Kreislauf, „ritorna sull’albero la cornacchia / es kehrt zum baum die krähe wieder“ (6/7), der auch im Titel seine Entsprechung findet. Im italienischen Gedicht gibt auch der Vokal o, der die Verse klanglich bestimmt, dem im übrigen reimlosen Gedicht einen ganz bestimmten Klang. Die wiederholt auftretenden Doppelkonsonanten zu Beginn des Gedichtes verleihen ihm Rhythmus, „eterno movimento / ewige[s] bewegen(6/7). Während in diesem Gedicht – wie in zahlreichen dieses Bandes – das lyrische Ich im Zentrum steht, findet sich darin eines, in der die Anrede auf ein „tu/du“(90/91) erfolgt, das als Leser/Leserin definiert wird: Es ist das Gedicht Particolare sull‘ universo / Detail zum Universum, von dem auch der Titel des Bandes herrührt: „tu che dall’immenso / leggi questi minuti preziosi; du der du aus dem unendlichen / diese kostbaren minuten liest“ (90/91) und sodann wird auch der Leser/die Leserin als „minuto prezioso pure tu / di questo universo svanito; kostbare minute auch du / dieses verschwundenen universums“ angesprochen: Andeutungen auf die Kostbarkeit der Poesie und des poetischen Denkens.
Ein besonders anrührendes, sehr schönes Gedicht ist Le radici sul mare / Die Wurzeln auf dem Meer (182/183), das abschlieβend für sich selbst sprechen soll:

„cosa pensi
della nostalgia“                                                       ora chiedo                                                                   all’olivo
                                                                      
„was denkst du
über die sehnsucht“
frage ich nun
den olivenbaum
 
lui con le radici
della lunga memoria
mi risponde
 
 er mit den wurzeln
des langen erinnerns
antwortet mir
  
„riprova
a farla
camminare
sulle onde
  
„versuche wieder
sie auf den wellen
gehen zu lassen
 
   
lÌ solo
capisci
che tutto va
e tutto torna“
nur dort
verstehst du
dass alles geht
und alles zurückkommt“

 

nach obenBarbara Siller


 

Waltraud Mittich: Abschied von der Serenissima. Roman.
Innsbruck: edition laurin 2014

Im Zentrum: die am Rande der Geschichte Stehenden

© edition laurin, 2014 „Straβen als Auβenräume begehen, abgehen, noch einmal gehen, wird in den folgenden Geschichten eine Art Programm sein, Leitmotiv, Konstante. Vom Menschen auβerhalb seiner Wohnräume am meisten benutzt und gestaltet, wie sollten wir nicht daran denken, ihr Schicksal auf gleicher Höhe zu betrachten und zu beschreiben wie das unsere.“ (5) – so beginnt das Buch Abschied von der Serenissima von Waltraud Mittich. Ein autofiktionaler Roman, der Lebenspfade, aber auch konkrete Wege und Straβen in aller Bewusstheit noch einmal begeht. Im Zentrum stehen weibliche Biographien des 20. Jahrhunderts, die mit Südtirol in Verbindung stehen. Der Roman ist vielschichtig: Drei Kapitel geben ihm Struktur, jedes von ihnen erzählt eine bestimmte Zeitepoche (ausgehend von den 1920er Jahren bis zu den 1980er Jahren). Hier geht die Autorin chronologisch vor, während auf der Mikroebene des Textes die zeitliche Folge an Bedeutung verliert – Erinnerungen widersetzen sich den Chronologien.  Vorangestellt ist ein kurzer Prolog, der thematisch in das Thema der Wege und Straβen einführt und gemeinsam mit dem Epilog zur Serenissima „als Name für eine Autobahn, die nach Osten führt“ (223) den Rahmen bildet.

Das erste Kapitel, Zäzilia, schildert die Spurensuche einer Tochter nach ihrer bereits verstorbenen Mutter. Es ist der Versuch einer Vervollständigung der lückenhaften „Mutterbiographie“ (36), denn die Mutter „hat sich tot geschwiegen“ (9). Die Tochter, die im Roman als Ich-Erzählerin auftritt, hat lediglich die „nicht einmal zur Hälfte ausgefüllte Biographie“, einige Fotos und Postkarten vor sich. Aufgewachsen in schwierigen Zeiten, als das siebte Kind einer Bauernfamilie in den 1920er Jahren in Südtirol, zog die Mutter als Dienstmädchen nach Alassio in Ligurien. 1939 kehrte sie mit einem Bündel an Lebenserfahrung, einem flieβenden Italienisch und mit vornehmen Kleidern ins Südtiroler Dorf zurück. Der Satz „Scharf abgebogen ist das Leben meiner Mutter in Alassio“ (55) wird zu einem Motto, das im Text fortlaufend aufgegriffen wird: Gemeint ist damit die Lebenswende der jungen Frau, die sich nach ihrer Erfahrung in der Fremde als Rückkehrende weder ins Dorf einfügen kann, noch einfügen will, sie passt nicht mehr in die „vorgeschriebenen Gleise“ (55). Das Wortfeld Wege und Straβen setzt Mittich in ihrem Roman immer wieder als Metapher ein. Die Rückkehr ins Dorf bedeutet für die Mutter ihre Niederlage, sie ist eine „Gescheiterte“ (51), denn „zurück kommt eine früh gealterte Frau mit einem ledigen Kind“ (50). Damit ist alles gesagt. Sie wird als Zugehfrau ihr restliches Leben putzen, bis sie dement wird und – symptomatisch – kein Zurück mehr findet, wie es im abgeänderten Chansontext von Fabrizio De André’s Lied Andrea s'é perso zum Ausdruck kommt.
Die „Muttersucherin“ (36) fährt nach Alassio, geht  die vermeintlichen Wege ihrer Mutter nach, sucht nach deren Wohnung, wird aber nicht fündig, fragt sich, ob die Mutter von ihrem Vorgesetzten, dem faschistischen Commendatore, wohl in Ruhe gelassen worden sei. Viele Fragen und nur ganz wenige Antworten, vielmehr Vermutungen und Vorstellungen ergänzen das Puzzle der Biographie, denn „meiner Mutter Spuren sind nicht lesbar für mich, hier in Alassio“ (23), glaubt die Tochter zu wissen. Und doch nimmt sie an, dass die Mutter mehrmals zur „Beute“ geworden sei, zur Beute der Männer, aber auch zur Beute der Geschichte, die sich an „ihr vergriffen“ (28) habe. Mittichs Roman macht sichtbar, wie die groβe Geschichte das Leben der (weiblichen) Figuren entscheidend geprägt hat. Dennoch richtet sich der Blick gerade auch auf den Mut und das Selbstbewusstsein der Figuren: Sie wollen ihre eigenen Wege beschreiten.
Die Erzählerin holt die Mutter herein in die Gegenwart, lässt sie am Blumenmarkt der Stadt wieder aufleben, erinnert sich an die Besonderheiten in ihrer Verwendung des Italienischen, wo sie sich bestimmte Wörter ganz zu eigen machte und diese dann ein Selbstleben annahmen. Die Ich-Erzählerin wiederum greift die „Mutterwörter“ (32) auf und nimmt sie zum Anlass für Reflexionen.  Zusehends wird sichtbar, dass diese Spurensuche immer auch in die Spuren des eigenen Lebens führt und daher immer nahe geht. Enthüllt wird beispielsweise das Schicksal des – der Tochter bisher unbekannten – russichen Vaters. Immer wieder gesteht sich die Erzählerin ihr Versäumnis des genaueren Nachfragens ein.

Es folgt die Geschichte der Rosina im 2. Kapitel. Dies ist die Biographie einer Frau, die in den 1950er und 1960er Jahren an einem politischen und sprachlichen Grenzort Südtirols, wo „die Identitäten wackeln, weil die Unterschiede so sichtbar sind“ (78), aufgewachsen ist und die ihrer Sehnsucht nach einem anderen Leben „auf dem Weg ins Tiefland“ (88) in den Süden folgen will: Das Gefühl der Enge durch die Berge und der „Tunnelblick“ (130) verstärken ihre Wunschvorstellungen. Mit der Ich-Erzählerin, die sich am Ende dieses Kapitels als Moia outet (eine Figur, die bereits in Mittichs Erzählband Grandhotel auftrat), verbindet sie eine Freundschaft, beides sind gute Schülerinnen und italophil, einfach auch, weil sie glauben, dass die italienischen Männer die schöneren seien. Der Traum Rosinas führt sie in die Prostitution, später heiratet sie einen „Roma-Mann“ (131) und lebt gemeinsam mit „seinem Clan“ (95) in Süditalien. Die letzte Nachricht, die die Erzählerin über die Medien erreicht, berichtet von Rosinas Mord an ihren Mann. Reflexionen über das Verschweigen, das Erzählen und das Finden der treffenden Wörter, auch das Finden der Wörter für das Tabu der Sexualität sind in diesem Kapitel zentral. Erzählen wird als Lebensstrategie begriffen, die Wandelbarkeit der Geschichten wird deutlich, und das Verständnis der Erfahrungen durch den genauen Blick auf die Wörter einer bestimmten Epoche angesprochen. So heiβt es,„zu erzählen von Rosina bedeutet die Wörter der sechziger Jahre auseinander nehmen zu müssen“ (81). Und das Wort „unkeusch“ nimmt die Ich-Erzählerin als ein „unmögliches, ein geradezu hässliches katholische Wort“ (157) wahr, dessen Verschwinden sie trotz ihrer Liebe zur Wörtervielfalt sehr begrüβt.
Erzählperspektiven und Erzählstile wechseln im Roman. Die Ich-Erzählerin thematisiert auf der Metaebene, wenn sie in  die dritte Person wechselt: Grund dafür sei die notwendige Distanzierung. Briefe an Rosina stehen neben den Erzählpassagen, neben essayistischen Teilen, italienische Abschnitte werden ins Deutsche übersetzt und folgen im Text nacheinander. Der Text stellt Verknüpfungen über Assoziationen her, Motive und Bilder führen zu den Erzählungen, und nicht zeitliche Abfolgen. Auch der Raum wird gedehnt: Dies macht die Figur der Pilgerin (die sich mit der Ich–Erzählerin deckt) deutlich, anhand der auch das Motiv der Wege und Straβen wieder aufgenommen wird: „Es gibt Straβen, die erzählen und bestimmen die Geschichte der Orte, die sie durchqueren. Dasselbe gilt für Flussstraβen.“ (88) Sie zieht durch Orte und Räume und lässt an den jeweiligen Orten die dazugehörigen Erinnerungen oder das Wissen über Ereignisse und Zusammenhänge wieder aufleben, so an der Drau das Kosakenmassaker, und damit auch ihren Vater. Doch da hält sie an: „Und auch wenn über das Leben ihres Vaters nicht alles gesagt ist, sie will es nicht hier tun, sondern dort, wo die Drava nicht mehr die Drau ist, sondern als Donau ins Schwarze Meer flieβt. Sie weiβ bereits wo. Die Pilgerin ist mittlerweile so erfahren im Umgang mit den Tücken ihrer Biographie, dass sie leichthin verdrängt, was alles noch anhängt“ (122 ff.). Die Scheu vor der eigenen Biographie, der eigenen Familienbiographie scheint immer wieder im Text durch, denn das dabei Gefundene vermag die Figur ordentlich zu erschrecken, zu verunsichern und zu verwirren.
Ariadne, die Ich-Erzählerin des dritten Kapitels mit dem gleichnamigen Titel und die Tochter der Jugendfreundin von Moia, führt den Leser in die 1970er und 1980er Jahre Südtirols, hier vor allem in das für die Jugend chancenlose Südtirol (vgl. 178), das  der „Vordenker“ (174) und „Grenzgänger zwischen den Kulturen“ (194) Alexander Langer erlebte. Langer, die Ich-Erzählerin und Moia führen ein fiktives Gespräch, in dem Langer utopisch den Nicht-Besitzer zum neuen Menschentypus der Zukunft erklärt und diesmal auch die Rechte der Frauen anspricht, ein Thema, das – wie die Erzählerin richtig erkennt – nicht zu den typisch Langer'schen Themen zählte. Auch der Dichter Norbert C. Kaser findet Erwähnung, als jemand, den genauso wie Langer die Begrenztheit in den Tod getrieben habe. Die Enge der Autonomie habe die Menschen im Land erstickt, mutmaβt die Ich-Erzählerin in Mittichs Roman. Die Sehnsucht nach Grenzüberschreitungen wird untrennbar mit diesen beiden Persönlichkeiten verbunden.  Doch die Sehnsucht aller Figuren endet in herber Enttäuschung. Der Epilog schlieβt den Kreis, indem er zur Strada d’Alemagna, zur Serenissima zurückkehrt, die das eigentliche Ziel aller Figuren war, die hier groβ geworden sind. Doch „auch die Serenissima wird zugeschneit wie jener ferne Dezembertag, an dem das weiβe Schiff in der weiβen Stadt anlegt. Dreimal tönt die Sirene des weiβen Schiffes, einmal für die Verheiβung, einmal für die Lüge und einmal zum Abschied.“ (223).
Die Prosa von Waltraud Mittich ist mutig, ergreit Partei für die am Rande der Geschichte Stehenden und scheut nicht vor Offenlegungen zurück, mögen diese noch so durchdringend sein.

nach obenBarbara Siller


 
Siegfried Nitz: Fieber68. Roman.
Bozen: Raetia 2014
 
Nachgelassenes Fieber?

© Raetia, 2014Die Gegenwart bietet zwar Machtverhältnisse wie ehedem, sie bietet Unrecht, Skandale und Krisen in Mengen, jedoch kaum noch gesellschaftliches Engagement gegen ebendiese. Da greift der kritische Zeitgenosse gern nach besseren Zeiten, auch wenn sie nicht nur lang vorüber sind, sondern kaum Spuren hinterlassen haben. Tendenzen, gegen die man in den späten 1960er und in den 1970er Jahren protestierte und durchaus unter Anwendung von Gewalt kämpfte, haben sich schließlich doch durchgesetzt, sie sind heute zur einzementierten Selbstverständlichkeit geworden. Das „Fieber“ von damals hat nicht nur nachgelassen, es existiert so gut wie gar nicht mehr; in Nitz‘ Buch aber wird es noch einmal beschworen – fast so, als könne solches Erbe im Jahr 2014 doch noch angetreten werden.

Für den zeithistorisch interessierten Menschen bietet das Buch so manches. Nitz stellt unter Nennung der Quellen jene Bewegungen und Ereignisse zusammen, die Südtirol betroffen oder besser gesagt: gestreift haben. Das ist interessant, findet man doch das eine oder andere Detail bzw. Stimmungsbild, das darauf schließen lässt, dass „das Land in den Bergen“ nun doch nicht ganz unberührt geblieben ist von der europaweiten Studenten- und Arbeiterbewegung, die als die 68er in die Geschichte eingegangen ist. Die Lektüre des Buches ergibt letztlich, dass diese Bewegung nur einen verschwindend kleinen Teil der Südtiroler Jugend erreichen konnte, dass das Fieber nur ein winziges Bevölkerungssegment erfasste und die Mächtigen, vor allem die Monopolpresse Dolomiten, alles daran setzte, kritische Aufwallungen jedweder Art im Keim zu ersticken. Man musste denn als Südtiroler, der wirklich mitmachen wollte, woanders hingehen, und man ging eher nach Italien als nach Deutschland oder Frankreich. LC, Lotta Continua, übte als italienische Linksbewegung und teilweise auch als Kampftruppe eine gewisse Faszination aus. Der Autor scheint sich dort ausgekannt zu haben, er erzählt quasi aus einer Innenperspektive, er kann die Schwelle vom berechtigten Anliegen zur Kriminalität spürbar machen und er wirft – bei allem Respekt für die extremen linken Kräfte in Italien – auch ein kritisches Auge darauf.

Nitz macht anhand ausgewählter (real existiert habender) Figuren deutlich, wie borniert die Verhältnisse in Südtirol waren, wie hermetisch abgeriegelt sie sich gegenüber dem Weltgeschehen, etwa dem Vietnamkrieg einerseits und den Anliegen der Jungen andererseits gaben. Hier wird für die junge Generation der Gegenwart etwas festgehalten, was wichtig ist: Ohne vorausgehende Entlarvung der gewohnten Machtverhältnisse lässt sich jenes Lebensgefühl, das die 68er für sich entdeckten und das der heutigen Jugend fehlt, nicht finden. Man muss zuerst Altes niederreißen, damit sich das Neue zeigen kann – und damit verbunden sind Risiken, die man bereit sein muss einzugehen. Die Kritik am  Imperialismus und die Verbundenheit mit den geschundenen Völkern auf der anderen Seite der Erdkugel, das Leiden am Unrecht und das Eintreten für Gerechtigkeit zählten zum Lebensgefühl der 68er ebenso wie die Ablehnung von Autoritäten, eine befreite Sexualität und die Forderung nach Bildung für alle.
 
Man kann mit dem Buch in der Hand einiges lernen, anderes wiederentdecken, man findet spannende Zitate aus Literatur und Presse und erhascht einen Blick auf nicht mehr zugängliche politische Gruppierungen; man wird an Dinge erinnert, die man schon vergessen hatte, man wird zum Nachdenken angeregt und ahnt, was die kritischen Köpfe von damals bewegt hat, was sie überhaupt aufgescheucht hat. Im Anstoßen von Bewusstsein und Erinnerung sehe ich den Wert des Buches und empfehle es all jenen, die das 68-Thema bis heute sachlich interessiert, und zwar deshalb, weil es letztlich ein universelles Thema ist. 
 
Aber: Das Buch ist, obwohl es das behauptet, gewiss kein Roman – und genau das ist schade und gerät ihm letztlich zum Nachteil. Obwohl eine Gruppe von Freunden (ob es fiktive oder reale Figuren sind, spielt eigentlich keine Rolle) in wiederholten Abschnitten zu Wort kommen, zum Beispiel in Form von Briefen und Postkarten, obwohl da und dort ein gewisser Einblick in ihr Tun und Lassen gewährt wird, bleibt diese Erzählschicht merkwürdig bruchstückhaft und letztlich auch lauwarm und dünn. Hätte Nitz wirklich einen Roman geschrieben und Charaktere geschaffen, die die 68er in Südtirol durchlebt und vielleicht auch durchlitten haben, so wäre vielleicht einiges an Dokumentarischem darin nicht unterzubringen gewesen, aber es hätte zumindest die Chance bestanden, nicht nur den Kopf, sondern auch den Bauch und das Herz der Leser anzusprechen, sie hineinzuziehen in das titelgebende „Fieber“, in jenes „neue Lebensgefühl“, jenes „Aufschäumen“ (Signalwörter aus der Rückseite des Umschlags), um das es Nitz doch zentral geht, das er aber selbst in der Kreisbewegung zwischen Dokumentation, Tatsachenbericht und etwas vage bleibender Narration verloren zu haben scheint.

nach obenErika Wimmer


 

Herbert Rosendorfer: Ich beginne, an der Nicht-Existenz Gottes zu zweifeln … Letzte Gespräche. Herausgegeben von Julia Rosendorfer und Paul Sahner. Mit 23 s/w-Fotos und zahlreichen Zeichnungen und Faksimiles.  
Wien: LangenMüller 2013

© LangenMüller, 2013Selten beginnt ein Buch mit “Letzten Bitten”:
einen ganz einfachen Sarg, nur Bretter, das Kreuz, das bei uns im Wohnzimmer hängt, drauflegen. (Aber nicht mitverbrennen.) Unbedingt FEUERBESTATTUNG.
Ein stilles, lateinisches Requiem im Sinn eines Wortgottesdienstes. KEIN Gemeindegesang.
Mein Freund P. Urban Stillhard, OSB, hat mir versprochen, daß er den Gottesdienst halten wird, wenn er Zeit hat.
An Musik nur vorher der langsame Satz aus dem Streichquartett von Giuseppe Verdi, zum Schluß den langsamen Satz aus Schuberts “Tod und das Mädchen”.
Danach ein einfaches Totenmahl. Vielleicht sind Heini und Dieter behilflich.
Nur EINE Rede, entweder Feruccio oder Frau Dr. Hosp, oder Prof. Locher oder Frau Dr. Vescoli, wer halt Zeit hat. Ein kurzer Gruß des Bürgermeisters wäre schön.
Herbert Rosendorfer
3. Februar 2012
Am 16. Geburtstag Cosimas

So einfach und vornehm verabschiedet sich der Mensch Rosendorfer aus dem Leben. Auch wenn es den Genannten an Zeit fehlen sollte, am Begräbnis teilzunehmen, als handle es sich um einen verschiebbaren Termin bei einem Arzt, Rosendorfer war in jedem Fall anwesend, wenngleich in anderem Zustand.

Der Titel des letzten Buches von Herbert Rosendorfer – genauer über und mit ihm - ist eine ziemlich schmerzhafte Stelle im religiösen Empfinden der Gesellschaft und ein Vermächtnis: Das Sterben ist nie aus der Mode gekommen. Und die Frage nach dem, was danach ist, auch nicht.
So auf- und abgeklärt wir uns auch halten, auf eines wissen wir keine definitive Antwort: Was ist nach dem Leben? Wo finden wir uns wieder? Begegnen wir uns einander? Auf welche Weise?

Aber das ist alles sehr menschlich gedacht. Und genau diese Ebene bedient Herbert Rosendorfer in diesem Buch nicht, auch wenn er dem Menschlichen sehr nahe gekommen ist. Allein schon aus beruflichen Gründen.
Das Terrain, das die Herausgeber betreten und in dem sich die Überlegungen zu Rosendorfers seelischer Landschaft erstrecken – und für deren Veröffentlichung man seiner Frau Julia nicht genug danken kann – ist ein Feld für Zweifler, Spötter, Besserwisser und Spekulanten in Sachen Schicksal und Bestimmung des Menschen.

Das Buch hat einen familien-intimen sympathischen Grundton, der wie ein Andante immer wieder anklingt. Aber dennoch viel zu ernst ist. Und tiefsinnig, für ein nach einem von Leben sattem Dasein, wie es der Psalmist beschreibt. Überhaupt kann man – als kleiner Hinweis – für das Leben, aber auch über das Sterben aus dem Alten Testament viel Brauchbares herauslesen. Man wird nüchtern in bezug auf die Gegenwart, die sich auch für die Menschen von damals als gottergeben, gottfern oder profan gezeigt hat. (Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie tagesaktuell und gegenwartsbezogen manche Aussagen sind).

Die Kernaussage des Buches signalisiert unzweifelhaft: es geht um die Frage nach Gott. Um das, was wir uns nicht vorzustellen imstande sind, obwohl wir ununterbrochen auf ihn stoßen.
Manche sehen ihn als einen Verrückten, als den Liebenden einer Liebe, die uns unbegreiflich ist; für andere existiert er nicht, andere haben Angst vor ihm, und andere nehmen mit ihrem Herzen Zuflucht bei ihm und sind deswegen keine Weltverächter.
Was also ist dieser Gott? An dessen Nicht-Existenz Rosendorfer langsam zu zweifeln beginnt.
Man könnte ihm Todesfurcht unterstellen. Aber dafür ist Rosendorfer nicht zu haben. Er ist der Mann, der seinem Zustand gerade ins Auge blickt. Unabänderlich. Während andere in Larmoyanz ausbrechen, zieht Rosendorfer eine nüchterne, abgeklärte – beinahe augustinische - Ruhe und Souveränität seines So-Seins vor.
Wer ist dieser Mann, der – in diesem Buch öffentlich – sein tägliches Gebet laut spricht: „Lieber Gott, ich bitte dich, dass es dich gibt.“
Man muß nicht unbedingt ein religiöser Mensch sein, um eine gewisse spirituelle Dimension dieses Buches zu erkennen, zu erspüren. Und man braucht kein Kind sein, um mit diesem Gebet eine Gewißheit zu erbitten, woran man vielleicht ein Leben lang gezweifelt hat.
Krankheit als Dramaturgie des Daseins – als ob man vom Sterben verschont bliebe. Aber jedes physische Leben endet mit dem Sterben. Das zu erkennen, gehört zur Allgemeinbildung. Möchte man meinen. Die Gewißheit der Endlichkeit, und das, was der menschliche Intellekt dazu sagt oder die menschliche Empfindung spürt – den Widerstand gegen das Unumgängliche, Unvermeidliche. Das alles relativiert. So schön, reich, berühmt, begabt etc. kann man gar nicht sein, als daß man nicht sterben müßte.

Der überwiegende Teil des Buches ist in Form von Interviews und einer Art Rückblende von Julia Rosendorfer auf sein dann doch unerwartetes Ende gehalten. Aber ein Interview in dieser Angelegenheit ist kein gewöhnliches Interview.

Paul Sahner, ein Autor der BUNTEN, versucht dem Menschen und Schriftsteller Rosendorfer nahe zu kommen, mit Fragen, wie es in der Jugend war, ob man verrückt ist, sich mit dem Phänomen „Gott“ auseinander zu setzen, ob etwa die Erkrankung Anlaß dafür sein könnte, ob er daran gedacht hat, Selbstmord zu verüben (was wäre damit ausgesagt, wenn er das in Erwägung gezogen hätte?) und ob er jetzt mehr bete als früher, was darauf schließen läßt, dass Rosendorfer diese Kommunikation mit Gott in welcher Form immer gepflegt hat, um ihm auf “die Spur zu kommen“. Offenbar ist es schwierig, den Überlegungen Rosendorfers „Abgeklärtheit” am Beginn des 21. Jahrhunderts abzugewinnen.
Rosendorfer ist kein Überlebender eines Schiffsunglücks, bei dem man eine distanzierte, auf delikate Skandälchen hungrige Gesellschaft bei Arzt oder Friseur bei Laune halten kann. Denn mit dem, was schließlich "auf ewig bestehen bleiben mag", tut sich die weltbezogene Gesellschaft schwer. Das ist nicht umsatzförderlich und mit Sicherheit nicht "bunt" genug.

In Wahrheit geht es doch im ganzen Leben immer um das "Ankommen-dürfen", das "Angenommen- und Getröstet-werden". Jean-Paul Sartre benannte des Gegenteil von dem als Hölle, als Zustand, der dann verortet werden kann. Ob nun das Leben als Gymnastikhalle für Bildung, Intellektualität, Klugheit und Erfolg gesehen wird, das HERZ ist unverzichtbar.
Je fortgeschrittener die Entwicklung in der Medizin, der Technik, je tiefer die Erkenntnisse der Naturwissenschaften sind, umso weiter entfernt sich der Mensch von der Enträtselung der Frage nach Gott; je mehr wir wissen, umso unverständlicher aber erstaunlicher wird die Schöpfung.

In dem Gespräch mit einem guten Freund, Konstantin Wecker, bei dem es um die Allmacht Gottes geht, erörtern sie den Gedanken, dass Gott, wenn er allmächtig ist, einen Stein erschaffen könnte, der so schwer ist, dass ihn auch Gott nicht heben kann. Wenn er diesen aber nicht heben kann, kann er nicht allmächtig sein.
Rosendorfer war ein Suchender, der mit Hilfe seiner Begabungen als Schriftsteller, Musiker, Musikliebhaber und Zeichner versuchte, das Leben, wie er es erlebte, zu verstehen, sich “einzuverleiben”.

Artur von Schuschnigg, der Rosendorfer viele Jahre die Manuskripte abgetippt hatte, erwähnt in seinem Beitrag, dass eine Reihe teilweise sehr ernster Krankheiten, die ihm in seinem letzten Lebensjahrzehnt nicht erspart blieben, ihn intensiv über die „Letzten Dinge“ des Lebens nachdenken ließen. Zu Lebzeiten war er damit zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen.

Der Tod wird dann unerträglich, wenn es keinen Sinn gibt, gestorben zu sein. Und er darf nicht das letzte Wort haben.
In diesem Sinn, ist dieses Buch ein schönes, ergreifendes Buch, weil es den Mut eines Mannes zeigt, von dem man diese Art Bekenntnis nicht erwartet hätte.
Und Herbert Rosendorfer hat, so Inga Hosp in ihrer Trauerrede, nun wohl Antwort bekommen auf die eigentliche, die skeptische Frage seines Lebens, die mit der Bitte endet: Lieber Gott, ich bitte dich, dass es dich gibt.
Fiducit!

nach obenHans Augustin

  



Herbert Rosendorfer: Martha. Von einem schadhaften Leben. Roman.
München: LangenMüller 2014

© LangenMüller, 2014„Martha. Von einem schadhaften Leben“ heißt der letzte Roman von Herbert Rosendorfer und er erzählt genau dies: die Geschichte einer Frau, die in das 20. Jahrhundert hineingeboren und von Orten, mit denen sie eine Koexistenz führen wird. Denn lange bevor Martha geboren wird, gibt es einen Menschenschlag in einer weltabgekehrten Gegend, die einem mythisch-magischen Terrain gleicht. Dort fristen die Menschen eines Südtiroler Bergdorfes an der Grenze zur Schweiz ihr ewig gleichbleibendes, vom Aberglauben geprägtes, karges Dasein. Darüber plaudert ein Erzähler in einem halbernsten Ton gutmütig, liebevoll, auch kritisch. Beinahe mündlich wirkt dieses Erzählen, lebendig, elliptisch, mit eingestreuten tirolerischen Wendungen, gleichzeitig distanziert und ironisierend.

Der Erzähler selbst wirkt wie einer dieser Alten, der sein jahrhundertelanges Schweigen aufgibt und sich alles von der Seele redet. Ohne Rücksicht auf Konventionen und Althergebrachtes betrachtet er den Lauf der Welt im Allgemeinen und die Eigenarten der Südtiroler responsive italienischen Verhältnisse im Besonderen. Politische Mächte tauchen in Form von Herrschern auf, die in dieser Gegend höchstens Halt machen, um Symbole ihrer Macht zu hinterlassen und Soldaten zu rekrutieren. Dass sich der Staat einmal als k. u. k., dann als italienisch erweist, spielt weiter keine Rolle. All das ist von einer tiefen Sympathie für die Figuren durchzogen, abgesehen von politischen Witzfiguren.

In dieses Geflecht von Betrachtungen und Überlegungen hinein wird Martha als zweites Kind des Serafin Punggera geboren, ihre Mutter stirbt bei der Geburt. Aufgezogen von der ungeliebten Großmutter eröffnen sich für Martha („Sie war immer schon anders“) neue Perspektiven, als sie in jungen Jahren zu ihrer Tante zieht, die für einen Orden den Haushalt führt. Ihr weiterer Lebensweg hängt von zufälligen, doch richtungsweisenden Begegnungen ab. Eine schöne Zeit verbringt sie in Rom, bevor sie für vier harte Jahre zurück in die „Heimat“ muss, um ihre Großmutter Rosa de Lima zu pflegen. „‚Nein, das ist kein Leben‘, dachte Martha oft, ‚nur ein schadhaftes solches.‘“ Die Liebschaft mit dem Friseur Mario spiegelt die politische Situation Südtirols wider, inklusive gesprengter Strommasten und Selbstbestimmungsbestrebungen der deutschsprachigen Bevölkerung.

Besonders angetan hat es Martha ein Deutscher namens Gabs, dem sie sexuell hörig wird. Auf seine Versprechungen hin bricht sie ihre Zelte in Südtirol ab und reist nach München. Selbst als sie erkennt, dass dieser Mann ihr nichts als Lügen auftischt, kann sie sich von ihm nicht lösen. Gleichzeitig trifft sie immer wieder auf Menschen, die sie freundschaftlich unterstützen, die sie beruflich voranbringen, die ihrem Interesse für die schöne Kunst Nahrung geben. So spannt sich ein großer erzählerischer Bogen über das gesamte 20. Jahrhundert, in dem Martha Höhen und Tiefen eines Lebens erlebt, in dem sie von Dämonen verfolgt wird.
Sylvia, die Malerin, zu Martha: „‚Du musst sie abschütteln.‘ ‚Wen? ‘ ‚Die Dämonen, die Steinernen. Die Großmutter ist nur einer davon. Das Land ist voll. Herrschen über Wind und Wetter, haben Macht über den Fels und das Eis. Kennst du sie nicht? Weißt du nichts davon? Unsere Leute kommen aus dem Stein, nicht aus Lehm wie Adam. Aus dem Fels. Die Croderes, die Urmenschen, die Steinmenschen. Sehen aus wie Menschen, haben aber ein Herz aus Stein.‘“

Köstlich amüsant erscheint die knarzige Art und Weise, in der der Erzähler Dinge auf den Punkt bringt. Gern lauscht man diesem gescheiten Alten, der ganz eigensinnige, konservative Ansichten zur Malerei hat. Schon Albin Egger-Lienz ist ihm verdächtig, dass Mussolini ihn als „zweiten Michelangelo“ bezeichnete, dient ihm nur zu Spott und Häme. Aber auch Künstler wie Sol LeWitt und Mark Rothko („Öd-Langweiler“) hält er für Scharlatane. Besonders gelungen sind jene Textpartien, in denen der rechtskundige Rosendorfer Gerichtsszenen vorführt, dabei geht sein Temperament im besten Sinne mit ihm durch, das ist Komik von allerhöchsten Graden.

Der letzte Satz des Romans: „Nein, neidisch war sie nicht, aber hätte es nicht auch anders mit ihr kommen können?“ eröffnet einen Möglichkeitsraum und ist zugleich Programm: eine Lebensgeschichte präsentieren, die an wichtigen Wegmarken des 20. Jahrhunderts dank Herkunft und Schicksal vorbeischrammt. Ein „schadhaftes“ Leben, wie immer wieder leitmotivisch betont wird.  Ein beinahe langweiliges Leben mit Höhen und Tiefen, Glücksfällen und Pech, im Grunde genommen durchschnittlich, unaufgeregt. Großartig erzählt, mit dieser Verve des abgeklärten und doch leicht böswilligen Erzählers, der sich gerne lustig macht über die Dummheit, Naivität und Abhängigkeit vom Urteil anderer. Der Wunsch, frei zu sein vom Milieu, und gleichzeitig die Unmöglichkeit, diese Freiheit zu leben, weil da tiefere Ströme Richtungen einschlagen, denen man folgen muss. „Da ist die große Welt, da ist die kleine Welt Südtirol, da ist die noch kleinere Welt Tschagoi …“ Und die Dämonen, die an jeder Ecke lauern und die Herkunft bewusst halten, Herkunft, die Schranken errichtet, die letztlich unüberwindlich sind.

nach obenFlorian Braitenthaller

 


 

Judith W. Taschler: Apanies Perlen. Vier Erzählungen.
Wien: Picus 2014

© Picus, 2014Vier Erzählungen versammelt dieser Band, deren Abfolge gut gewählt ist, nimmt doch die Intensität des Erzählten kontinuierlich zu.

In „Oskar oder Who the fuck is Waldheim?“ wird das Unwahrscheinliche zur Normalität. Der Protagonist heißt Matzerath, Oskar Matzerath; so zu heißen verdankt er der Bösartigkeit einer Mutter, die dem ungewünschten Sohn die Bürde dieses Namens mit auf den Lebensweg gibt. Zuletzt wird ein Mörder entdeckt, dem es gelungen war, sein ganzes Leben lang Versteck zu spielen.

Man bemerkt bald: Diesen Figuren ist nicht zu trauen. Man sollte dem nicht trauen, was sie selbst für wahr halten, denn hinter jeder scheinbar plausiblen Lebensgeschichte steckt ein Verrat, eine Täuschung, eine List. Darüber hinaus vermittelt der Text, der mit Versatzstücken aus Literatur und Zeitgeschichte arbeitet, ein seltsames Vergnügen an Grauslichkeiten: üble Gerüche, üble Geschmäcker, üble Gedanken. Das Muster dieser Erzählung ist einfach gehalten: Man nehme eine Biografie, füge das Thema Nazi-Vergangenheit hinzu, Kriegsverbrechen, schlimme Kindheit und mixe alles kräftig durcheinander.

„Bis der Tod uns scheidet“ parodiert die Geschichte eines Mörders. Ein Ich beobachtet eine Frau: Ausführlich erzählt dieses Ich ihre gemeinsame Geschichte, die vier Jahre zuvor begonnen hat und deren Ende vor Kurzem eingetreten sein muss. Sie heißt Maria, ist religiös, weshalb sich der Mann nun mit der Liturgie der „heiligen Messe“ beschäftigt. Er hat sich ein Buch besorgt, das diese im Detail erklärt. Ausschnitte daraus wechseln sich mit seinen Beobachtungen und Erinnerungen ab. Da wird kein Klischee ausgelassen. Maria muss sterben, damit aus dem gemeinsamen Sohn kein katholischer „Knierutscher“ gemacht werden kann. So landet dieser mit dem sorgeberechtigten Vater auf der Couch vorm Fernseher. Es ist eine eigenartige Männerfigur, die hier konstruiert wird: ein Dummkopf als Selbstdarsteller, ein vermeintlicher Frauenversteher, der nichts kapiert, aber handelt, und wie nebenbei über Leichen geht.

Die Atmosphäre des Unheimlichen wird in „Worst Case“ eindringlich geschildert. 2015: Etwas Schlimmes muss geschehen sein, man weiß nicht, was, aber die Auswirkungen sind fatal: Die österreichische Bevölkerung scheint in einen Zustand wie nach dem 2. Weltkrieg versetzt. Obwohl die Katastrophe schon drei Monate zurückliegt, gibt es keinen Strom, keine funktionierenden Medien, keine Lebensmittel. Wer kann, flieht aus der Stadt aufs Land. So auch der Protagonist, Julius Maier. Es ist Winter, kurz vor Weihnachten. „Jeder Tag ähnelte dem anderen, er konnte sie nicht voneinander unterscheiden, selbst die Stunden verrannen ineinander. Er half ab und zu seinem Vater bei Waldarbeiten. Sein Vater war trotz Winter und Schnee besessen davon, Brennholz herbeizuschaffen. Julius saß in seinem Zimmer auf dem Bett und versuchte, seine alten Jugendbücher zu lesen, andere waren nicht vorhanden: Mark Twain, Karl May. In der Küche schälte er mit seiner Tante Erdäpfel und schnitt mit seiner Mutter Kraut. Er kehrte das Stiegenhaus und den Gang. Sein Leben kam ihm elend vor.“

Die Stimmung der Resignation und Trostlosigkeit als Reaktion auf etwas Furchtbares ist präzise erfasst, subtil geschildert. Einmal hat Julius die Idee, die Katastrophe könnte (wie in dem Film „Truman Show“) nur inszeniert sein, sie würden von fremden, politischen Mächten beobachtet, die sich auf ihre Kosten amüsierten. „… in jedem Stück Dreck witterte er pure Beobachtung.“ Überhaupt spielt das Beobachten in den Erzählungen Taschlers eine zentrale Rolle: Ständig beobachtet jemand jemanden, meistens mit einer bösen Absicht. Die darauf folgende Handlung führt dann zu einem tragischen Ereignis. Leider entpuppt sich die „Katastrophe“ am Ende als ein Vorfall, der den geschilderten Folgen nicht gerecht wird.

Sinnfälliger ist die letzte Erzählung, „Apanies Perlen“, die in der Südtiroler Gegenwart beginnt, dann aber märchenhafte Züge annimmt. Apanie, das ist ein Aborigine-Mädchen, das im Jahre 1867 gezwungen wird, nach Perlen zu tauchen. Ein Tauchgang, bei dem sie 100 Perlen findet, endet tödlich. Die „Hauptfigur“ dieser Erzählung ist eine aus diesen Perlen geformte Kette. Ihr Besitz bewirkt vorerst Glück und Segen, wird dann aber zum Fluch. Über hundertfünfzig Jahre lang wird der wechselvolle Besitz dieser Perlenkette nachgezeichnet, die von Australien nach Europa, von Broome und Sydney bis Wien und Salzburg gelangt und schließlich in Südtirol landet. Am Ende dieses Staffellaufs sind wir wieder am Anfang angelangt, der Kreis schließt sich.

Zumeist geht es bei diesen Geschichten um Blut und Gewalt, und immer ist da jemand, der beobachtet. Sadistische Täter und ahnungslose Opfer. Und immer geht es um Familien und darum, wie sie funktionieren oder besser: nicht funktionieren. „Seine Kinder waren ihm entglitten, besonders seine zwei Großen. Sein Sohn schrie ihm ins Gesicht, dass er ihn hasse, seine älteste Tochter Nora, sie war immer sein Liebling gewesen, wollte ihn auf ihrem Maturaball nicht dabeihaben. An diesem Abend betrank er sich bis zur Bewusstlosigkeit, um nicht mehr daran denken zu müssen, dass ein anderer Mann, seine Exfrau hatte einen neuen Partner, mit seiner Erstgeborenen den Vater-Tochter-Walzer tanzte.“ Und immer ist der Tod ganz nah. Die Motivation der Figuren, das, was sie antreibt, bleibt manchmal rätselhaft.

nach obenFlorian Braitenthaller

 


 

Judith W. Taschler: Roman ohne U. Wien.
Picus Verlag 2014, 330 Seiten 

Problematische Ironie des Schicksals

© Picus, 2014Am Dienstag, 17.06.2014, hielt Sigurd Paul Scheichl, emeritierter Professor für Österreichische Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck, seine Abschiedsvorlesung. Darin war unter anderem vom Wohl und Wehe der Germanistik die Rede. Zum Wehe der zukünftigen Germanisten-Generation gehöre, dass ihr das genaue Lesen zugunsten des Schauens abhanden gekommen sei, was Scheichl unter anderem daran festmachte, dass in schriftlichen Arbeiten der Studierenden vermehrt der Begriff “Hauptdarsteller” anstelle von “Hauptfigur” auftauche.

Das kam mir nun wieder in den Sinn, als ich den Satz “Sie fachsimpelten lange über Autoren, Bücher und ihre Charaktere.” in Judith Taschlers neuem Roman las. Unmittelbar vorher wurde in diesem Gespräch zwischen den zwei lesenden Romanfiguren Katharina und Philipp allerdings nach der “absoluten Lieblingsfigur” gefragt (Philipp: Humbert Humbert in Nabokovs Lolita, Katharina: Wilbur Larch in Irvings Gottes Werk und Teufels Beitrag). Der Begriff Charaktere wiederum brachte mich auf den vornehmlich in der angloamerikanischen Literatur verbreiteten “All persons fictitious disclaimer”: “All characters appearing in this work are fictitious. Any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental.”

Ganz zu Beginn des Romans wird im Übrigen die - um einen weiteren Begriff zu verwenden: Protagonistin vorgestellt: “Die Hauptfigur ist eindeutig Katharina Bergmüller.” Gut zu wissen. Wer lässt es uns wissen? Ein allwissende/r Erzähler/in. Der/Die erzählt hier zumeist aus einer  Charakter-Perspektive. Ein Satz wie “Sie war zwei Jahre älter als er und sah umwerfend aus, sie haute ihn buchstäblich um.” könnte einen aber doch stören, selbst wenn das quasi sprachlich authentische Gedanken des Charakters sein sollten. Vielleicht auch dieser: “Es ist unnötig zu erwähnen, dass er ihr gefiel, er hatte ihr schon im Interalpen-Hotel gefallen, sie stand auf große dunkelhaarige Männer mit Brille.” Er wird übrigens in Klammern beigefügt, weil offenbar - wie auch in Folgendem - der/die Erzähler/in eo ipso/ea ipsa spricht: “Stephanie empfahl ihm das Interalpen-Hotel, das sich dreißig Kilometer westlich von Innsbruck, mitten im Wald, befand, wir erinnern uns daran.”

Dieses den/die Leser/in vereinnahmende Erinnern des/der Erzählers/in ist nun tatsächlich ein Wenig-Brisantes-Wiederholendes, weil bereits an anderem Ort aus Figuren-Perspektive mitgeteilt, und das passiert häufig. Ob diese inkonsequent kokettierende Erzählweise einer linearen überlegen ist, wage ich zu bezweifeln. Die vorgestellten Charaktere im Übrigen laufen nicht Gefahr, Menschen realiter zu gleichen, dazu sind sie zu papieren. Ausgenommen von diesen beiden Kritikpunkten sind die in das so Erzählte eingearbeiteten Passagen aus dem titelgebenden Roman ohne U. Ein Roman ohne E war schon: Der Franzose Perec hat ihn geschrieben und der Deutsche Helmlé unter dem Titel Anton Voyls Fortgang übersetzt. Im Spanischen ist es ein Roman ohne A, im Russischen einer ohne O geworden. Dabei handelt es sich nicht bloß um einen „lipogrammatischen Roman“ (Helmlé). Perec geht es auch um das Bewusstsein literarischer Fiktionalität. Und der französische Titel, La Disparition, bezieht sich auch auf das Verschwinden von Perecs Mutter im Holocaust. Außerdem lassen sich ohne E auch schöne Sätze formulieren wie: „Olga sang manchmal Schumann. Olgas Stimmorgan tönt silbrig in Nachtluft.“

Etwas davon findet sich auch hier im Roman ohne U: “Inmitten von Soldaten und Hunderten von abgemagerten Häftlingen steht ein majestätischer Flügel im Schnee. Davor sitzt ein Mädchen, das in einem dunkelblauen Kleid Schumann spielt. Schumanns ‘Kinderszenen’.” Es ist die 19-jährige Ludovica, die in Wien aufgewachsen und nach Kriegsende 1945 von den Sowjets verschleppt worden ist. Einer der abgemagerten Häftlinge ist Thomas. (“Was für ein schöner Name für einen Helden!”) Sie treffen auf dem Marsch in Stalins Archipel GULAG aufeinander. Ludovica wird die Torturen nicht überleben; Thomas kehrt 1965 zurück und schreibt ihre gemeinsame Geschichte auf. Er ist der Ich-Erzähler des Romans im Roman: “Die Schreibmaschine finde ich in meinem alten Zimmer, ich streichle über die Tasten. Das U ist kaputt.”

Ausgehend von diesem Manuskript werden ihre beiden Lebensfäden mit jenen der Hauptfiguren unserer Tage verwoben, ohne dass diese wüssten, in welche Beziehungen sie sich bereits vor dessen Auftauchen verstrickt hatten. Ludovica und Thomas erscheinen heroisch, während ihre Nachfahren in diesem Heroismus ironisch gebrochen werden: Bei den Bergmüllers geht es schließlich bloß um das Kitten einer gescheiterten Ehe! Die große Desillusion nimmt der/die allwissende Erzähler/in auf den letzten Seiten in einer unnötigen Parenthese vor. Insgesamt hinterlässt all das den schalen Eindruck gewollter Konstruktion. In dieser Erzähllandschaft mag man thematisch zwar einiges erfahren, aber die Tatsache, dass es sich bloß um leidlich hübsch aufgestellte Kulissen handelt, schmälert diese Erfahrung doch erheblich. 

nach obenBernhard Sandbichler 
 



Verena Teissl: Kulturveranstaltung Festival. Formate, Entstehung, Potenziale.
Bielefeld: Transcript 2013

© Transcript, 2013Ein Blick auf die Tiroler Kulturveranstaltungslandschaft zeigt, dass sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ein vielfältiges und kaum noch zu überschauendes Spektrum an kulturellen Veranstaltungen herausgebildet hat. Sehr viele davon sind festivalesker Natur. Kulturveranstalterinnen und Kulturveranstalter sind heute mit zunehmender Konkurrenz und Kommerzialisierung, mit fehlenden kulturpolitischen Konzepten und anderen Herausforderungen konfrontiert. Angesichts des inflationären Auftretens von Festivals und damit zusammenhängender Problemfelder beschäftigt sich Verena Teissl – Komparatistin, Professorin für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement an der FH Kufstein und nicht zuletzt selbst Initiatorin und Mitarbeiterin diverser Festivals – also mit einer aktuellen Thematik, wenn sie nach Beschaffenheit, Geschichte und insbesondere der gesellschaftspolitischen wie künstlerischen Wirkungsmacht von kulturellen Festivals fragt. Gegenüber den Veranstaltungsprogrammen fest eingerichteter Kulturbetriebe erzeugen festivaleske Veranstaltungen als „inszenierte Zeit-Räume“ eine besonders hohe Aufmerksamkeitsdichte. Auf künstlerischer Ebene vermögen sie der Initiation weiträumiger Netzwerkstrukturen und der Weiterentwicklung künstlerischer Formensprache zu dienen. Auf gesellschaftspolitischer Ebene schaffen Festivals idealerweise „Orte der Gegenöffentlichkeit“, sind besonders geeignet dafür, „transkulturelle Prozesse“ in Gang zu setzen. Theoretisch stützt sich die Autorin u.a. auf das Konzept der „Sites of Passage“ (Marijke de Valck): Kulturfestivals werden aus dieser Perspektive als wirkungsmächtige Schnittstellen verstanden, die „ästhetische Akkumulations- und Aufmerksamkeitsprozesse in Gang setzen bzw. implizieren, um eine Veränderung, eine Initiation zu bewirken“ (S. 76).

Widmet sich die Autorin im ersten Teil des Buches anhand konkreter, quasi archetypischer Beispiele der theoretischen Fundierung, der Typologisierung sowie der historischen Entwicklung des Formats Festival, das sie in der ästhetischen Moderne verortet und dessen Vorläufer sie in den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts findet, so beschäftigt sie sich im zweiten Teil des Buches mit Rahmenbedingungen (etwa Finanzierungsmodellen) und Möglichkeiten von Festivals im regionalen Raum, speziell in Tirol. Ihre theoretischen Überlegungen exemplifiziert sie anhand der Tiroler Kulturveranstaltungsgeschichte von 1945 bis zur Gegenwart, die sie bis zu Beginn der 1980er Jahre – die Tiroler Volksschauspiele erweisen sich hier als wichtige Zäsur – unter dem Vorzeichen der „Tiroler Dichotomie“, also der Polarisierung zwischen traditionellen und modernen Positionen, liest. Galt den Initiatoren der ersten Kulturfestivals – zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa die Bayreuther Festspiele, die Esposizione Biennale (Biennale di Venezia) oder die Donaueschinger Kammermusiktage – die Provinz als notwendiger Flucht- und Freiraum abseits der Zwänge des Kulturbetriebs in den Metropolen, so stellt sich heute die Frage nach dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie angesichts von Globalisierung und einer inzwischen dichten Angebotsstruktur völlig neu. Nichtsdestotrotz sind die Rahmenbedingungen für Kulturveranstaltungen im regionalen Raum andere: Neben Beschränkungen, was etwa Finanzierungsmöglichkeiten, vorhandene Publika oder kulturjournalistische Auseinandersetzung betrifft, spielt nicht zuletzt die Verinnerlichung der Dichotomie Metropole – Peripherie eine Rolle und lässt Kulturveranstaltungen im ländlichen oder kleinstädtischen Raum häufig unter dem Vorzeichen des Provinziellen erscheinen. Bestand bei den ersten Kulturfestivals in der Regel keine thematische Beziehung zwischen Veranstaltung und Veranstaltungsort (bestenfalls dienten landschaftliche Reize als Kulisse), so bespielen heute Festivals den regionalen Raum im Rahmen kulturtouristischer Konzepte oder reflektieren künstlerisch bzw. kuratorisch die jeweiligen regionalen Besonderheiten. Dabei kommen weiträumigere Entwicklungen, wie Teissls Analysen zeigen, tendenziell eher zu kurz. Anhand der Studie „Fallbeispiel Tirol“ versucht die Autorin eine Bestandsaufnahme der aktuellen Kulturveranstaltungslandschaft, wobei insbesondere ihre empirische Studie „Befragung der Kunstschaffenden“ durch die unzulängliche Datenlage wohl kaum repräsentativ ist.

Teissls Arbeit bietet einen gut zu lesenden, theoretisch fundierten und differenzierten Einblick in die Herausbildung des Veranstaltungstypus Festival. Vor allem Leserinnen und Lesern, die mit der Tiroler Veranstaltungsgeschichte nicht vertraut sind, stellt sie überdies eine übersichtliche (wenn auch, was die herangezogene Literatur betrifft, etwas kursorische) Einführung die Geschichte der Tiroler Kulturveranstaltungslandschaft bereit. Nicht zuletzt liest sich ihr Buch als Plädoyer für die kulturwissenschaftliche wie kulturpolitische Auseinandersetzung mit kulturellen Veranstaltungen. Ihr Entwurf einer Typologie künstlerisch-kultureller Veranstaltungen mag hierfür einen wertvollen Beitrag leisten, speziell dort, wo es um eine nicht nur nachfrageorientierte Bewertung von Veranstaltungskonzepten geht.

nach obenIris Kathan

 



Vera Vieider: Gebettete Landschaft. Gedichte. Mit einem PVC-Schnitt von Josua Reichert.
Meran: Offizin S. 2013 (Lyrik aus der Offizin S., Heft 23)

Der 7. Jahrgang der bibliophilen Reihe Lyrik aus der Offizin S. steht im Zeichen der Elemente. Mit Gebettete Landschaft hat Vera Vieider dazu einen für eine 25-jährige Autorin ungewöhnlich stillen Gedichtzyklus beigetragen. Man wäre nicht überrascht gewesen, bei einer so jungen Autorin ikonoklastische Sprachgesten zu finden, flammende Sturm-und-Drang-Verse, die das zunehmende Verrücktspielen der Elemente widerspiegeln, darin die Zerstörungswut der Menschen anprangern und von der globalen Rebellion der Elemente handeln.

Vieiders Gedichte handeln nicht von Rebellion, sondern von Dialogen, sie sind nicht ikonoklastisch, sondern betrachtend. Mit großer sprachlicher Zurückhaltung deutet die Autorin die einzelnen Elemente in ihren spezifischen (minimalen) Erscheinungsformen an und setzt sie in Beziehung zum lyrischen Ich. Die Struktur der Gedichte spiegeln eine lyrische Haltung wider, die als kontemplativ bezeichnet werden kann: dort die Vögel, die Flamme, die Bäume, der Regen, hier die gedankliche und emotionelle Resonanz der Sprecherin. Fokussiert werden, inmitten der Fülle der Erscheinungen, einzelne Details, an denen fast psychische Kräfte erspürt werden:

auf nacktem Asphalt
spielt
das Licht der Gasse
heimisch den Ton

oder

gebettete Landschaft
dieses Rauschen
schafft Räume

oder

Wasser spült Wunden

Den Zyklus eröffnet ein in formaler und thematischer Hinsicht programmatisches Akrostichon, bei dem die Anfangsbuchstaben der Verse das Wort ELEMENTE ergeben. Die Akrostichon-Verse evozieren zunächst abwechselnd das Wasser, die Luft, die Erde; am Ende, an (versteckt) exponierter Stelle, steht dann das Feuer:

T   aumelnd am Feuer
E   ntnabelt der Morgen die Glut

Der zwölfteilige Zyklus selbst besticht durch formale Transparenz: je drei Gedichte sind den Elementen Luft, Feuer, Erde und Wasser gewidmet. An (versteckt) zentraler Stelle, buchstäblich in der Heftmitte, im Herzen des Bandes, steht das Feuer.

Zu den besonderen poetischen Qualitäten der Gedichte zählt die konstante Verflechtung des Motivs „Element“ mit dem Motiv „Sprache“. Die Weite des Himmels, der Atem der Flamme, die Kargheit der Landschaft, die Brandung des Meeres werden mit dem (poetischen) Sprechen verknüpft, wobei diese Verknüpfung auf sehr leise Weise geschieht. Überhaupt zeichnet sich Vieiders Sprache durch eine große Zartheit aus; nirgendwo trägt sie dick auf; sie drängt sich den Erscheinungen niemals auf, sondern erfasst deren Qualität gleichsam an ihren äußersten Rändern, an ihrem Schatten, an ihren Folgen. Vieiders Sprache belässt den Dingen ihr Geheimnis. Es sind Gedichte voller Zärtlichkeit (und ich sehe / deine rissigen Hände / die du abreibst / unerzählt) und Anteilnahme, die an den Erscheinungsformen der Elemente ihre Bedrohtheit wahrnehmen:

Mager / stehen die Bäume / im Stamm […]; In diese Landschaft / ist Kargheit gezogen […]; Die Dünen / stehen haltlos […]; ein Plätschern / ein Raunen / Spurenzerfall […]

An den bedrohten Elementen wird wie in einem Spiegel die Bedrohung des eigenen und fremden Sprechens erkannt:

mundtaub / das zerborstene Wort […]; es bahnt sich die Welle / es bricht sich mein Wort […]

Bedroht wird es durch Schweigen (in diese wortlosen Ebenen/ will ich Furchen ziehen / doch im Kerzenschein / hat das Schweigen / einen zweiten Sinn […]), durch inneren Rückzug (ich trete den Rückweg an […]). Am Leben erhalten wird es durch die Ahnung weiter Räume (Gedankenflüge / das offene Feld […]), durch die Nähe des Feuers (bin mir lichtnah / wie nie […]; rückst du näher / kriecht dir Wärme ins Herz […]). An buchstäblich zentraler Stelle, wo der Heftfaden die Blätter zusammenhält, offenbart das lyrische Ich seine eigene Bedrohtheit und zugleich seine Kraft:

mundtaub
das zerborstene Wort

es scheint mir
das stechende Rot
als wär es
mein innerster Ton

Auch der Bildkünstler Josua Reichert, der zu Vieiders Gedichten das Bild Metamorphose geschaffen hat, scheint von genau dieser Passage inspiriert worden zu sein. Sein Bild zeigt vor tief rotem Hintergrund ein Feuer oder einen brennenden Baum. Dieser steht auf einem balkenähnlichen Stück Boden, seine Flammen erreichen und sprengen ein balkenähnliches Stück Himmel. Reichert hat die „innerste Farbe“ der Sprache von Vera Vieider erfasst und ihre potentielle Sprengkraft zum Ausdruck gebracht.

Josua Reichert: Metamorphose. PVC-Schnitt, 2013  

 

Wir wünschen der Autorin, dass sie dem Roten, dem Stechenden aber auch Leuchtenden, und dem Glühenden in ihren zukünftigen Büchern weiten Raum gebe. Gebettete Landschaft ist eine verheißungsvolle Ankündigung: Am Horizont / rot durchzogen die Naht

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Eleonore De Felip 
 


 

Erika Wimmer: Nellys Version der Geschichte. Roman.
Innsbruck: Limbus 2014

© Limbus, 2014       Gewagt eröffnet Erika Wimmer ihren Roman über Freundschaft, Liebe und Liebesvermögen: der Filmemacher Sturm beobachtet Publikum, Menschen, die zur Präsentation von Buch und Film kommen. Er denkt sich seinen Teil, er hofft auf manche Gesichter, er wartet, bis der Saal voll ist und alle da sind, auf die seine Frau Nelly, die Schriftstellerin, besonderen Wert legt. Sturm ist ein komplexer Mann, aber das verrät die Autorin noch nicht. Auf den ersten Seiten wirkt er pedantisch, distanziert, lehrerhaft, während er die wichtigsten Personen der Geschichte so en passant vorstellt. Sieben Seiten, deren Lektüre die Irritation über den Mann Sturm verstärkt, scheinen keine verführerische Einleitung für einen Roman zu sein. Aber Erika Wimmer macht es so geschickt, dass klar wird: es gibt einen guten Grund für diese Art von Eröffnung – und man möchte ihn kennen.
       Sturm scheint nur eine Art Chronist zu sein, interessiert an Ursachen und Folgen, ein Stiller mit unpassendem Namen, auf eigene Art verwickelt in das Drama. Sturms Frau Nelly hat seit Jahren nicht mehr geschrieben. Doch das Material, das Sturm zu Valerias Freunden gesammelt hat, erwies sich als Damm brechend.
       Was hat es also mit dieser Gruppe auf sich? Was passierte, als Valeria vor rund fünfzehn Jahren starb, während ihre Freunde die letzten Wochen bei ihr verbrachten, sie pflegten, ihre eigenen Tagesabläufe nach den Bedürfnissen der Kranken richteten, miteinander auskommen mussten, trotz aller Missverständnisse, trotz Verrat, trotz Lügen und schmerzlicher Erkenntnisse? Valeria starb und das Leben der anderen veränderte sich, teilweise massiv.
       Svea, die Südtiroler Freundin Valerias, ist nun nicht mehr verheiratet, hat ein neues Glück gefunden und wieder verloren, und ein anderes Leben weit weg von daheim begonnen, als Zugereiste in einem Dorf, in jeder Hinsicht selbständig. „Am Ende hat meine angebliche Unabhängigkeit mich auf eine Insel ohne Anlegeplatz verbannt.“ Ihr neues Zuhause wird der Treffpunkt, wo sich alle nach vielen Jahren wieder treffen und unter Sturms sanft leitender Hand den unterschiedlichen Wahrheiten ins Gesicht schauen. Svea kann Neugierde nicht verhehlen. Aber auch nicht ihre Nervosität. Denn sie wird Julia wiedersehen, damals noch sehr, sehr jung, die mit  Sveas Mann David eine Affäre hatte. Außerdem gab es ihren Schützling Hanna, schrecklich kompliziert und geschädigt. Hanna liebte offensichtlich David ebenfalls, verzweifelt und Besitz ergreifend. Sie war Schuld, dass Svea genug hatte, nicht länger mit Scheuklappen leben wollte. Und David wird kommen, der alleine lebt und sich als Verlassener begreift, bis er versteht, dass der Fehler auch bei ihm liegt: „Um die Verwüstung, die ich zurückließ, hab ich mich nicht mehr gekümmert. So hab ich das in meinem Leben immer gemacht. Und am Ende hat es mir nichts eingebracht. Gar nichts.“
       Valerias Zeit des Sterbens war für sie alle eine Auszeit und ein Neubeginn, und von allen ungeplant und ungewollt. Erika Wimmer macht das sehr schnell klar und baut eine Spirale wachsender Gewalt und Spannung auf. Packend stellt sie Erfahrungen einander gegenüber: Sveas und Hannas Kindheit haben wenig gemeinsam und doch gibt es eine Art von Gewalt, die beiden innewohnt. Es gibt Druck, den die Eltern ausüben. Aber Svea und Hanna entwickelten unterschiedlichen Strategien, um damit leben zu können. Und sie lernen beide, das, was sie für Liebe halten, zu verstehen und zu überwinden. 
       Das Streeruwitz'sche Stilmittel der Kürzestsätze mit Punkten, die zusätzliche Pausen und Unterbrechungen im Lesen einfordern, wird manchmal ein wenig oft eingesetzt, denn Wimmers dramatische Schlüsselszenen leben ohnehin schillernd von punktgenau richtig gewählten Worten.
Die Vielschichtigkeit des Textes erfordert aufmerksame Lektüre, entspannender Freizeitroman ist das keiner. Aber die Leserin wird mit einer Fülle von Bildern belohnt, von anekdotischen Szenen, die zum Nachdenken einladen.           
       Erika Wimmer schildert in diesem ruhig beginnenden Roman großartig komplexe Charaktere. Und sie schafft es, einen Rückblick so in die Gegenwart einzubauen, dass die Spannung nie abflaut. Ohne zu verwirren, gleitet die Geschichte zurück zu Valeria und wieder Jahre der Gegenwart entgegen. Der Ton der einzelnen Erzählerinnen ist ihrem Charakter angepasst, das stark visuelle Element wird immer wieder von lustvollen Beschreibungen der gemeinsamen Essen unterbrochen, den einsamen Spaziergängen im Wald, der kollektiv erfahrenen Angst, als klar wird, dass die Dorfbewohner Anteil an diesem Treffen haben, ebenfalls Einfluss nehmen.
       Nellys Version der Geschichte ist ein wunderbar irreführender Titel, denn es geht der Autorin um viel mehr als eine Verflechtung mehrerer Biografien. Die schlicht wirkende Sprache täuscht, erst im Nachhinein wird klar, wie hinreißend manche Sätze konstruiert wurden.
       Valeria hatte nicht nur Glück mit diesen Freunden, die eigentlich gar keine Freunde waren. Sie erschuf eine Gemeinschaft, die sich ihrem Leiden unterwarf, und ihr Tod stellte alles in Frage. Sogar noch Jahre später schafft es die Erinnerung an sie, dass sich neue Freundschaften bilden, dass die Anekdoten rund um sie zum Kitt für neue Beziehungen werden. Wie das funktionieren kann, hat Erika Wimmer in eindrucksvoller Weise beschrieben.

nach obenBeatrix Kramlovky