(S.164-165)
"Sie lebt, wie man nicht leben darf, jetzt weniger denn je, hat immer so gelebt, wie man jetzt weniger denn je leben darf, braucht keine Entschuldigung dafür, nicht die Krankheit und nicht das Sterben, alles was sie getan hat, ist richtig. Sie denkt noch, es ist Teil der Wiederholung, sie läßt sich noch Schnabelbecher mit Tee aufs am Rollstuhl befestigte Tablett stellen oder bildet sich ein, die Flüssigkeit in dem Schnabelbecher, den sie mit den Lippen erreichen kann und den sie in einer traumhaften Form von Geschicklichkeit niemals umstößt, würde immer erneuert, beim Schlucken scheint der lauwarme Tee ein harter Gegenstand, etwas wie eine kleine metallische Kugel mit geriffelter Oberfläche zu sein, die mit großer Verzögerung über eine Kuppe rollt: es kann Tee sein, oder bloß (dann wächst die Kugel, wird noch härter und rauher) ihr eigener Speichel; wenn sie die Augen (trockene pupillenlose Schlitze) schließt, kann sie in ihre Mundhöhle hineinschauen und die Szene, wie auf einer Kinoleinwand, in einem Film, der nach seinem Ende endlos weitergeht, verfolgen; alle Entsprechungen dieser Szene, in Tönen und selbst Wörtern, kommen von selbst, wenn man sie nur in Ruhe läßt und sich nicht einmischt, wenn sie selbst all das in Ruhe geschehen läßt und sich nicht einmischt. Manchmal träumt sie aber, sie könnte einen Zettel unter der Tür hindurchschieben, an ihrer Stelle, mit einem klaren reinen eleganten überraschenden Satz. Dann wieder will sie aus ihrer Haut fahren: ihre ausgetrockneten Adern dehnen sich zu Kanälen, sie zuckt, wie um wenigstens aus dem Sessel zu stürzen, wünscht sich eine Axt in ihrem Rückgrat."
© 2006, Literaturverlag Droschl, Graz