Liebe Iris, schrieb Katharina, ich nenne Sie einfach Iris, doch ich weiß nichts über Sie, so wie Sie nichts über mich wissen. Das heißt aber nur, dass Jan nie über mich gesprochen hat und Sie folglich nichts oder sehr wenig über sein Leben vor Ihrer Begegnung mit ihm erfahren haben. Ich muss gestehen, ich habe lange gezögert, Ihnen zu schreiben, weil ich mir keinen Reim auf die wenigen Spuren mach kann, die Jan hinterlassen hat. Ein paar Briefe von irgendwoher und die Andeutung Ihrer Verurteilung. Kurzum: Mir erschließt sich die Geschichte nicht, in die Jan hineingeraten ist. Oder in die Sie beide hineingeraten sind. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie hören will. Ich glaube nicht, denn meine Geschichte mit ihm wird immer in größerer Schrift geschrieben und mit lauterer Stimme vorgetragen sein.
Sie legte den Stift zur Seite und hörte in die Stille der Wohnung. Mit größerer Schrift geschrieben und mit lauterer Stimme vorgetragen. Jetzt, wo dieser Satz auf dem Papier stand, kam ihr diese Stille wie aus vielen Stimmen zusammengesetzt vor, als flüsterte jedes der Milliarden Partikel, aus denen das Licht gemacht war, und draußen, vor dem Fenster, die Dunkelheit in nie gehörten Sprachen. Es war ein Zischen und Murren und Kichern in der Luft, so fein allerdings, dass sie den Atem anhalten musste, um es zu hören. Sie wünschte sich in diesem Moment nicht, was sie sich in den Nächten wünschte, wenn die Geräusche des Hauses und der Stadt verstummt waren, wenn sie das Licht abdrehte und schlaflos im Bett lag, dass Jan die Wohnungstür aufsperrt und vorsichtig durch den Flur geht, um das Parkett nicht zum Knarren zu bringen. Vielmehr hörte sie in die Stille und hörte die Stimmen in Sprachen flüstern, die sie nicht verstand, und sie stellte sich vor, dass es Geschichten sind, die da erzählt werden, alle Geschichten, die sich in diesem Augenblick ereignen, alle Gedanken, die zu Worten und Sätzen zusammenfließen.
S. 207