LESEPROBE:
„Biber“
In jenem Sommer arbeitete er hart daran, ein richtiger Biber zu werden.
Morgen für Morgen, wenn wir anderen Buben noch schliefen, lief er hinunter zum Fluss, der durch den Garten des gelben Hauses floss, riss sich den Pyjama vom Leib, sprang ins – je nach Wetterlage – baumkronengrüne oder morgensonnenrote Wasser und schwamm, das Köpfchen hoch-, die Schneidezähne rausgestreckt – wie ein Biber! –, flussaufwärts. Morgen für Morgen tauchte er so – nackt und den Kopf voraus – im Wasser unter, Morgen für Morgen tauchte er so – die nassen Haare an den Kopf geklatscht, Kopf hoch – beim Frühstück auf. Kein Wunder, dass ihn alle Welt – oder zumindest wir (aber wir waren alle Welt in jenem Sommer) – in jenem Sommer nur noch „Biber“ nannte.
Nun konnte es aber natürlich so – nackt, nass und jeden Morgen Sommer – nicht weitergehen, zumindest nicht für immer: wie jedes Mal folgte auch dieses Mal auf den Sommer der Herbst. Bald lag der Fluss Morgen für Morgen gelb, gelb wie das gelbe Haus, im Morgennebel, bald trieben gelbe Blätterteppiche den morgennebelgrauen Fluss hinab.Natürlich ging nun niemand mehr, nicht einmal er, am Morgen baden – und selbstverständlich war nun nicht nur das, sondern auch alles andere plötzlich ganz anders. Nun schlief er länger als wir anderen, ließ er, wenn er zu spät zum Frühstück kam, den Kopf hängen, hingen ihm noch, nicht uns die Haare ins Gesicht. Tatsächlich war er nun, im Herbst, ein völlig anderer.
Und nur noch seiner Zähne wegen nannte ihn alle Welt (die, wie im Sommer, wir waren): „Biber“.
(Seite 9/10)
„Die Kannibalen kommen!“
kreischte Biber, als die Entenfamilie (Großerpel und sieben Küken) die mit Schneeglöckchen übersäte Auwiese hoch watschelte – denn, wie er dem Türmchen-Mädchen, das große Augen machte, zähneklappernd erklärte: „Großvater sagt, sie fressen Entengrütze!!!“
(Seite 181)
„Das gelbe Land“
Im Frühling blühten erst die Schlüsselblumen, dann der Löwenzahn, dann der Ginster – dann flatterten die blassesten der Blüten, gelb wie der Schwarm Zitronenfalter, der sie waren, von den Stängeln herab, über die blütenstaubgelbe Wiese hinweg auf die Äcker hinüber, auf denen
im Sommer, der jedes Jahr früh kam, das gelbe Meer wogte: Raps, Sonnenblumen, Weizen. Marillen blinkten von den Bäumen, Kirschkerne bleichten in der Sonne, Zucchiniblüten öffneten sich in der Abenddämmerung und funkten ihr gelbes Lichtsignal zu den Sternen. Bis
im Herbst dann endlich all das Gelb geerntet war, bis alle Erdäpfel ausgegraben, alle Kürbisse eingeklaubt und alle Nuss- und Maronenpanzer aufgebrochen waren, verging viel Zeit … Erst dann, wenn auch das allerletzte all der gelben Blätter unseren Fluss hinabgeschwommen war,
im Winter also, wenn wir, die Buben aus dem gelben Haus, Abend für Abend vor dem Ofen beisammen saßen, wagte man zu sagen: „Der Sommer ist vorbei“ – Das Feuer flackerte, der Kindermet dampfte, die Seiten des Buchs, aus dem Großvater vorlas, schimmerten gelb
im Kerzenschein – als Biber, der lange, womöglich zu lange, in die Flammen gestarrt hatte, ursprünglich auffuhr und, mitten in Großvaters Vortrag hinein (ich glaube, es ging um Jahreszeiten), folgende Frage stellte: „Großvater, warum heißt unser Land 'das gelbe Land'?“
(Seite 217)
© 2015 Literaturverlag Droschl, Graz-Wien.