Leseprobe:
Mütterlicherseits haben vier Generationen in Wien studiert – Medizin, Maschinenbau, Welthandel, Jus, Psychologie, Musik und Kunstgeschichte. Die vielen Wurzeln, die ich in Wien hatte, brachten mir die Stadt aber nicht näher, vielmehr haben sie die Ferne vergrößert. Und bald würde das ferne Wien meiner Kindheit durch noch viel fremdere Wiens ersetzt, nämlich während der Emigration, wenn mein Vater in London im Café Old Vienna in der Tottenham Courd Road saß, oder wenn wir in New York das Wiener Café Eclair in der 72. Straße besuchten, in dem Beisel Die Blaue Donau in Yorkville des öfteren Nachtmahl hielten und meine Mutter bei einer ehemaligen Wiener Apotheke, die jetzt am Broadway lag, Rabatte bekam.
Das Nachkriegswien meiner Jugend brachte die Stadt auch nicht näher, auch wenn ich nun in der Josefstadt, dem achten Wiener Gemeindebezirk, und nicht mehr in Grinzing wohnte. Jetzt war die Ferne mehr geistig als geografisch, da ich vergebens die Stadt meiner Kindheit und die meiner Eltern, die ich hauptsächlich aus Erzählungen kannte, suchte und nicht fand.
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© 2015 Limbus Verlag, Innsbruck.