Leseprobe (S.135-136):
Da ist uns anscheinend jemand bei unseren Feldforschungen zuvorgekommen.
Ich weiß, dass ich die Stimme kenne, aber nicht, wem sie gehört. Meine Augen gehen nicht auf. Ich kann nicht nachsehen, wer da steht und mit mir spricht. Dafür spüre ich die Sonne auf der Wange und ein Insekt, das über meinen rechten Oberarm krabbelt.
Langsam taucht meine Erinnerung auf, aber so, als wäre sie die eines anderen. Ich zwinkere in die Helligkeit, zwei Menschen stehen da und jetzt fallen mir auch wieder ihre Namen ein.
Hallo Gudrun, hallo Bernhard, sage ich und merke, dass ich einen seltsamen Akzent habe. Als wäre Deutsch nicht meine Muttersprache.
Wir haben dich gesehen in der Nacht, sagt Bernhard, während sich Gudrun zu mir kauert.
Geht es dir gut, fragt sie.
Kann ich nicht sagen. Ist alles so ...
Keine Ahnung, wie ich das in Worte fassen soll. Mein Körper fühlt sich an wie aus Luft, aus heller Luft. Helle Luft mit flirrenden Staubpartikeln darin. Wie zu Hause in meinem Schlafzimmer, wenn ich in der Früh die Jalousie hochziehe und die Sonne hereinlasse.
… wie Sonntagmorgen, sage ich und sehe, wie Gudrun sich das Lachen nur schwer verkneifen kann. Wahrscheinlich sehe ich aus, als hätte ich Drogen genommen. Rote Augen, große Pupillen und mein Blick, der nicht genau trifft, sondern knapp an Gudrun vorbeistreift. Ich richte mich auf, stütze mich auf den Ellbogen und schaue mich um. Außer mir ist keiner mehr da. Auch mein Bruder und Brahim sind weg.
Habt ihr meinen Bruder gesehen, frage ich. Keine Ahnung, wie dein Bruder aussieht. Er war außer mir der einzige Ausländer bei dem Tanz gestern Abend.
Mir ist in dem Trubel kein anderer Ausländer aufgefallen, sagt Gudrun.
Mir auch nicht, Bernhard schüttelt den Kopf. Und heute früh, im Ort, ist euch da auch niemand begegnet, der mir ähnlich sieht?
Nicht, dass ich wüsste, sagt Gudrun und schaut hinauf zu Bernhard.
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