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In Italien konnte Callot das wahre Leben entdecken, kennenlernen, was Hoffeste bedeuten konnten. In einer nicht gekannten Lust an der Maskerade, an Possen und mythischem Spiel, mit Pomp und Grandezza warfen sich die Florentiner in einen nicht enden wollenden Strudel der Lustbarkeiten, die auch den dem Knabenalter knapp entwachsenden Callot in einen Taumel der Sinne stürzten und ihm Eindrücke verschafften, die ihn sein ganzes Leben nicht loslassen würden. Dazu dieses Licht, das dem Süden eigen ist. Dieses Licht einer warmen Sonne, dieses Gefühl endlos scheinender Nächte, die keinen Morgen kennen. Die Hitze des Tages auf der Haut und die Wärme einer maskierten Partnerin beim Tanz an Händen und Armen, ein Taumel, ein Trinken, ein Tanzen, ein Lachen, ein Essen, Singen und Stöhnen. Die Nacht als ein anderes Wort für Leben, die Tage wie zuckende Muskeln eines einzigen, schlagenden Herzens, der Stadt – Florenz.
Wie sehr mochte er das, dachte Callot. Und wie anders war der Norden, wie anders war Nancy. Hier das Leben, die Lust, dort die Etikette. Hier das Vexierspiel, der Hang zur Maskerade, dort der Benimm einer braven Existenz, ein geradezu heiliger Ernst.
Wie hatte sich Callot in diesen heiligen Ernst einst vertieft, jeden Tag in die Messe und die vielen Bitten, der Herr möge ihn in jenem Beruf, den er einst ergreifen würde, zu einem Meister werden lassen. Die Zweifel, die Scham, das Beten, ein Flehen um ein gottgewolltes Leben. So war seine Familie gewesen; nicht umsonst traten seine fünf Brüder in den Orden der Franziskaner ein. Callot erinnerte sich genau seine Tage. Er wusste vom Leben nichts, erhoffte sich aber alles. Und der fromme Wunsch, der Herr möge ihn 43 Jahre alt werden lassen. Die Vorstellung von einem erfüllten Leben; mit Fleiß, Arbeit und Demut; gottgefällig.
Das Leben in Italien zeigte ihm eine andere Fratze, die den Leuten daheim wohl weniger gefallen hätte, die Callot aber umso mehr anzog. Vorerst blieb er aber nur Schüler; kopierte Entwürfe anderer Meister, versuchte sich in den verschiedenen Techniken des Radierens, versuchte, zu lernen. Er lernte schnell. Der Abschied aus Rom war ihm schwergefallen; der Abschied von der Stadt, nicht vom Atelier seines ersten Meisters. Und dann Florenz, die Stadt der Medici. Großherzog Cosimo II. nahm ihn auf wie den verlorenen Sohn, dessen Geschichte Callot später radieren sollte. Seine Mutter Christine von Lothringen sprach sich von Anfang an dafür aus, dem Sohn des Wappenherolds ihres Bruders eine besondere Achtung zu schenken. Callot sollte es ihnen vielfach zurückzahlen mit seiner Kunst.
Callot fror. Aber immer, wenn es ihm kalt und grausam ums Herz wurde hier im Norden, dachte er an den großen Markt von Impruneta, dann sah er den Platz vor sich und das schier nicht enden wollende Treiben der Leute, das Gewusel und ameisenhafte Gezänk und Gefeilsche, die Markstände und die Taschendiebe, die leichten Frauen und den Wippgalgen, an dem gerade ein Unglücklicher zum Gaudium des Publikums mit gefesselten Armen am Rücken gehenkt wurde; er sah die wilden Raufereien einiger Trunkenbolde, die Schausteller, an deren Armen sich echte Schlangen wanden; er sah, wie ein feiner Herr seiner Dame vom Pferd half und wie er aus dem Augenwinkel die eben vorfahrende Kutsche mit den Vornehmen aus der Stadt beobachtete, dahinter die Hunde herlaufend vor Erregung; überhaupt die vielen Hunde, die zwischen den Menschen und Kühen und Pferden wuselten, kläffend und knurrend; Callot dachte an den einen Hund, den er ganz in den Vordergrund des Bildes gezeichnet hatte, das einzige Geschöpf in diesem ganzen Kosmos der tausend Figuren, das den Betrachter direkt ansah; und er dachte auch an die zwei Hunde, die er genau in die Mitte des Bildes gesetzt hatte, zwei magere Köter, die auf ihre Weise am bunten Treiben ihren Anteil hatten, denn sie kopulierten wild und ungestüm, dabei doch unberührt und unbeachtet von der übrigen Welt; das alles sah Callot vor seinem geistigen Auge, während er müde in den Norden ritt.
S. 42 (- 44)
© 2016 Braumüller Literaturverlag, Wien