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Leseprobe (Seite 101-109):
Magnusson schickt den Kellner weg, ohne etwas bestellt zu haben.
"Wir haben Stress mit der Bároarbunga. Aber ich will euch helfen. Ich schicke euch mit einem Team von National Geographic auf den Vatnajökull-Gletscher, dort könnt ihr eine Fotostrecke machen und ihnen alles erzählen. Den Heli zahle ich. Ich werde aber nicht in der Geschichte vorkommen. Das National-Geographic-Team weiß Bescheid, in einer Stunde geht der Flug. Ihr habt oben genau eine Stunde Zeit. Danach fliegt der Heli noch direkt über die Bároarbunga, weil ich Messdaten brauche. Das wird euch gefallen."
(...)
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Als der Helikopter abhebt, sehe ich im aufwirbelnden Schnee eine Gestalt, die uns zuwinkt oder besser gesagt wegwinkt. Er sieht aus wie – das gibt’s doch nicht –, er sieht aus wie Snow. Snow! Ich stoße sofort den Professor neben mir an, um ihm zu deuten, dass er nach draußen sehen soll. Aber bis der reagiert, ist der Schnee eine undurchsichtige Masse geworden. Die Kopfhörer drücken schwer auf meine Ohren, angegurtet und in einem dicken Schneeanzug fühle ich mich völlig gefangen. Es gibt kein Oben und kein Unten. Der Heli fliegt quer durch die Luft, ich spüre nur die Geschwindigkeit in meinem Bauch. Was hat das zu bedeuten? Was kann Snow hier wollen? Ich muss sofort die anderen informieren. Die Stunde Flugzeit ist eine Ewigkeit, in meinem Kopf dreht sich alles. Wir sind in eine Falle getappt. Wir fliegen über ein Gletscherfeld, das einem zerfurchten Acker gleicht. Eine Gletscherspalte nach der anderen. Endlich erreichen wir ein flaches Gletscherfeld, das der Heli ansteuert.
Als wir über dem Feld schweben, setzt der Helikopter zur Landung an, wir springen einer nach dem anderen raus. Zuletzt hüpfen der National-Geographic-Mann und sein Assistent in die Kälte. Wir stehen alle bis zur Hüfte im Schnee. Dann passiert genau das, was ich befürchtet habe: Der Helikopter hebt ab.
Wir starren ihm so lange nach, bis er am Horizont verschwindet.
(…)
Am nächsten Tag stapfen wir schweigend durch den Schnee. Wir konnten erst gegen neun Uhr aufbrechen, vorher war es zu dunkel. Wir haben sechs Stunden, dann umgibt uns wieder dieses endlose Schwarz. Der Professor führt die Karawane an, an Gletscherspalten wagt keiner zu denken. Wir haben kein Seil, um uns aneinanderzubinden. Der Professor legt ein ordentliches Tempo vor, der Schnee ist hart, wir können auf ihm dahingleiten. Nur manchmal bricht ein Fuß durch den Firn und sackt tief ein. Sie lassen mich als letzte gehen, ich kann in den ausgetretenen Pfad steigen. Ein paar Mal müssen wir über kleinere Eisbarrieren klettern, wir hieven uns gegenseitig die Eiswände hoch, größere Barrieren müssen wir umgehen. Ich denke an die Brüder Bisson, eines meiner Lieblingsbilder zeigt die Expeditionsteilnehmer, wie sie wie schwarze Ameisen über die Eisabbrüche klettern, mit Holzstecken und einer Leiter als einzige Hilfsmittel. Die Holzleiter liegt quer über einer Gletscherspalte, ein Bergsteiger kniet gerade auf ihr. Was würde ich jetzt für eine Leiter geben! Ich bleibe zwei Mal stehen, um ein Foto von unserer Karawane zu schießen. Aber meine Hände zittern vor Kälte und Erschöpfung, die Aufnahmen werden nichts.
(…)
Wir bekommen noch zweimal Empfang, nur so kurz, dass wir Daten erhalten. Zum Telefonieren reicht es wieder nicht, doch wir können unsere Route korrigieren. "Wir werden noch zwei Tage brauchen", meint der Professor. Sein Tee rettet uns derzeit noch das Leben, aber lange werden wir ohne Essen auch nicht mehr durchhalten. Während wir trinken, versucht uns Robert, der National-Geographic-Fotograf, mit Geschichten bei Laune zu halten.
Er erzählt, dass die frühen Touristen in den Alpen ein unverzichtbares Accessoire in die Berge mitnahmen: einen konkaven Handspiegel. Wenn sie vor einem malerischen Panorama standen, nahmen sie den Handspiegel heraus und bewunderten den Anblick durch den getönten Spiegel. Dadurch verwandelte sich die Aussicht in ein pittoreskes Gemälde. Das verschaffte diesen Romantikern offenbar mehr Vergnügen als die direkte Ansicht. Wen dieser kleine Kunstgriff noch zu wenig überraschte, für den gab es von findigen Bergsteigern noch einen Trick, um das Gipfelerlebnis auf die Spitze zu treiben. Ein Schuss aus der Pistole krönte mit seinem herumirrenden Schall die Mühsal des Aufstiegs. Soweit die Theorie. Doch je höher der Gletscher, umso weniger gab der Berg an Geräuschen frei. Der Knall erstickte, bevor er sich vermehren konnte. Viele Bergsteiger scheiterten beim ehrenhaften Versuch, die Nationalhymne auf dem Gipfel zu singen. Der Berg verschluckte den ersten Ton, sobald er aus dem Mund kam. Aufgerissene Münder waren die einzige Ehrerbietung an die eigene Nation. Der Gletscher bewahrte seine Stille.
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