Leseprobe:
Ich erlebte mein halbes Leben lang zwei verschiedene Stimmungen beim Grenzübertritt: vergnügte, leutselige, joviale Grenzer beim Verlassen des einen und ein paar Meter weiter missmutige, misstrauische, mürrische Zöllner bei der Einreise ins andere Land.
Der Historiker stellt mir eine wirklich unnötige Frage: Wieso ich eine zweite jüdische Identität gewählt hätte statt einer arischen vom Lande, zum Beispiel als irgendein Michael Gruber aus Bad Ischl? So etwas kann wirklich nur jemand fragen, der noch nie in einer feindseligen Grenzsituation unter Druck gestanden ist. Ich musste mir eine Geschichte suchen, die glaubwürdig war, weil damals an jeder Zollstation und auf jedem größeren Bahnhof selbsternannte Spezialisten für Juden-Erkennung lauerten. Ich sah nach den von Hobby-Antisemiten empirisch-wissenschaftlich gesammelten Kriterien ganz eindeutig aus wie ein Wiener Jud. Wie viele ungeschickte Lügner hatten sie schon enttarnt und diese Geschichten stolz in der Kantine den Kollegen erzählt. Die Juden-Jäger jener Zeit entwickelten für falsche Arier ein ganzes Portfolio an Fallen, und jeder von uns musste irgendwann hineintappen. Hätte ich ein ganzes Ave Maria aufsagen können oder ein halbes Vaterunser? Von wo genau in Bad Ischl ich denn her wäre? Da drüben der Kollege sei aus Bad Goisern und kenne sich dort aus. Und natürlich war ich beschnitten und wäre schon beim ersten Fingerzeig auf meine Hose gnadenlos aufgeflogen. Mein Ernst Beschinsky, der war gut. Ich kannte seine Geschichte, ich kannte seine Gasse, seine Freunde und seine Zeit. Ich kannte die Namen seiner Eltern und ich hätte den mürrischen Grenzbeamten, wenn sie es hätten hören wollen, viele lustige Geschichten aus dem Wien der Zwischenkriegszeit erzählen können. So sucht man sich eine zweite Lebensgeschichte!
Willy Geber spielte einstweilen im Casino Hotel von St. Gallen Simultanschachpartien und freute sich über die üppigen Essensportionen der schweizerischen Wohlstandsgesellschaft. Er lernte eine nette christliche Familie kennen, Mutter und Tochter Bollmann aus dem Haus gegenüber nahmen ihn unter ihre Fittiche. In der Familienfama Geber soll er der knapp zwanzigjährigen Nelly Bollmann nicht nur Englisch-Nachhilfe gegeben haben, aus den Briefen an seine Frau Hansi ist dazu wenig überraschend nicht viel zu erfahren. Sie entwickelten gemeinsam einen riskanten Plan: Nelly sollte als schweizerische Unschuld vom Lande einen Besuch bei Hansis Eltern Walter und Jenny Losert am Wiener Fleischmarkt machen. Der Plan wurde umgesetzt, nach St. Gallen zurückgekehrt ist sie zwei Wochen später unter anderem mit dem ganzen Schmuck der Familien Geber und Losert. Das wäre einer jüdischen Ausreisekandidatin zu diesem Zeitpunkt auch mit den besten Papieren der Welt nicht gelungen, ohne hochnotpeinliche Untersuchung kam da schon längst niemand mehr hinaus.
Willy Geber versuchte mit allen seinen Möglichkeiten und Kontakten sogenannte Affidavits – so etwas wie finanzielle Garantien eines Einheimischen – für Amerika zu bekommen. Das war je nach Stimmungslage in den USA mal ganz leicht, dann wieder ziemlich schwer. Der später berühmt gewordene Photograph Philipp Halsmann hat seines bekommen, indem er unbekannterweise alle Halsmans in New York anschrieb, einer hat es ihm dann einfach geschickt. Geber setzte alle seine Hoffnungen in Hansis Onkel Max Kopper, der schon fünfzehn Jahre drüben lebte und in New Jersey City einen kleinen Tabak-Laden betrieb. Nach einer Reihe von Briefen aus Wien und St. Gallen schrieb Onkel Max Anfang 1939 aus Amerika an Gebers Schwiegervater Walter Losert, er könne leider das Risiko, für seinen angeheirateten Neffen Willy Geber ein Affidavit beim wohlhabenden und einflussreichen Dr. Greenberg zu organisieren, nicht übernehmen. Der müsse ihn dann wohl den Rest seines Lebens aushalten, da Willy arbeitsscheu, die Ehe aus Sicht der Familien Losert und Kopper nicht nur finanziell ein völliger Fehlschlag sei und er für den Mann seiner Nichte eher Verachtung als Respekt aufbringe. Das hat Geber natürlich schwer getroffen, seine Empörung verrät ein wenig vom wahren Kern der trockenen verwandtschaftlichen Analyse aus Übersee. Aber es spornte ihn an, zumindest das mit der Auswanderung hinzubekommen; er bat ab diesem Zeitpunkt alle Bekannten, ihm ihren Briefen kurze Charakterstudien für Onkel Max beizulegen, die ihn bestellungsgemäß als garantiert anständig und fleißig beschrieben.
(S. 89-91)
© 2018 Limbus Verlag, Innsbruck