Leseprobe:
Wann hatte sie sich zuletzt bewusst im Spiegel gesehen? Ohne an sich vorbeizuschauen. Um das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Jetzt sah sie winzige Falten auf teigiger Haut, das Resultat von auf 18 Stunden ausgebeulten Tagen, auf drei Stunden zusammengepressten Nächten, 165 000 Meilen in wenigen Wochen, Flugstrecken, imaginäre Linien. Sie fügten sich zu keinem Ganzen, blieben Gitterwerk zwischen ihren Fluchtpunkten. Mein Gesicht – auch Gitterwerk, dachte sie. Das Grün der Augen leuchtete nicht. Sie war nicht mehr schlank, sondern mager.
Vor Monaten war sie noch schön gewesen. Vielleicht. Matthias stand an die Glastür der Duschkabine seiner Münchner Wohnung gelehnt. Sein Blick hatte sie gestreichelt, war unter ihre Haut gegangen, wo er nicht hingehörte, hatte sie zur Abhängigen gemacht. Seine Komplimente über ihren Körper, die Linien ihrer Wangenknochen, ihre Art, sich zu bewegen‚ wie ein perfekt gespannter Bogen, und der Pfeil hat mich getroffen, schmeckten wie die Zuckerwatte auf dem Volksfest am Staffelsee, verführerisch und klebrig. Sie konnte als Kind nicht genug davon bekommen, bis sie sich übergab.
Ihre Haare waren glatt, sahen jetzt aber stumpf aus, obwohl sie sich letzte Woche einen Pagenkopf hatte schneiden lassen. Sie frisierte sich mit den Fingern, trug etwas Rouge auf, ging zurück zum Gate, setzte sich, unterdrückte ihre übelkeit, schlang die Hände um die Oberarme, um ein Zittern ohne Zittern. Mit ihrem Stand-by-Ticket musste sie bis zum Schluss warten, beobachtete Briten, Singhalesen beim Boarding, alle in einer ordentlichen Schlange, nach den jüngsten Anschlägen waren keine Touristen darunter. Ihre eigene Fluglinie flog in die Karibik und nach Südamerika, kaum nach Asien. Elf Jahre lang hatte sie Sri Lanka gemieden.
Manchmal gab es für Kollegen anderer Airlines einen Platz in der Businessclass; heute nicht. Das Bodenpersonal am Gate versuchte bloß, Paare mit getrennten Plätzen zusammenzusetzen, eine Familie mit Kindern in der ersten Reihe der Economyclass unterzubringen. Die Kabinenchefin setzte wenige Minuten später auf Claras nochmalige Frage nach einem Upgrade ein unverbindliches Lächeln auf.
»Sind Sie Flugbegleiterin, Ms. Fink?«
»Pilotin.«
»Dann tut es mir besonders leid. Ich darf das nicht.«
Männerrivalität ist wenigstens offen.
Du bist ungerecht, dachte sie Momente später, und übermüdet. Wahrscheinlich bekäme die Purserin wirklich einen Rüffel. Die Regeln waren strenger geworden.
Die Maschine war nicht ausgebucht, aber der Sitz neben ihr war besetzt, ein älterer Herr, der nach kurzem Gruß noch vor dem Start hinter einer lachsfarbenen Zeitung versank. Es gab keine zwei freien Plätze nebeneinander, auf die sie hätte ausweichen können. Immerhin hatte sie jetzt einen Fensterplatz. Sie schaltete das Unterhaltungsprogramm ein, zappte, schaltete aus, fand im Turbinenlärm keinen Schlaf, nur einen Dämmerzustand.
Wenn sie im Cockpit saß, schätzte sie die Flüge westwärts mit der Nacht in summender Stille, sah sich als postmoderne Nomadin im Schutz einer kaum beleuchteten Höhle, am digitalen Lagerfeuer über schwimmenden Zeitzonen. Zwei, drei Becher Kaffee, ihr Körper durchtauchte mehrere Stadien der Müdigkeit. Die Sterne verblassten, Himmel und Meer begannen sich zu unterscheiden, Schwarz wurde zu Dunkelblau, wechselte zu Violett-Rötlich, wie aus Tintengläsern ausgelaufen, bis die Sonne von unten aufging.
Jetzt sah sie ihr Spiegelbild im Fensteroval, dahinter blinkte der Flügel gleichmütig. Vor ihr fand ein Kopf eine Schulter. Sie zog die dünne Decke hoch bis zum Kinn und war froh, dass es diesmal in den Osten ging und der Morgen schnell kam.
(S. 6-8)
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