Leseprobe:
"Das sind alles Lügen", brachte Toth heiser hervor, "Unwahrheiten."
"Lüge, Wahrheit", sinnierte Brandt, griff nach der Kaffeetasse, die er für Toth hatte kommen lassen.
"Wissen Sie, was wir hier machen? Wir reduzieren. Wir reduzieren komplexe Sachverhalte auf menschliche Geschichten. Unterhaltsame Geschichten." Er stellte die Tasse ab, breitete die Arme aus. "Was ist schon Realität, Frau Anwältin? Es gibt nur die Darstellung, sonst nichts!"
"Darstellung." Toth hustete. "Das ist keine Darstellung. Ihr Journalist verbreitet Lügen über mich, über meine Kanzlei, und noch dazu verblendet er die Menschen in dieser Kirche!"
[...] "Wissen Sie, wir haben das früher auch gemacht, das mit der Wahrheit, aber Tinnermans, der Junge hat noch nie etwas anderes gelernt als das mit der Darstellung."
"Ihr Junge zündelt. Heute ist es Hungerstreik. Morgen fällt Ihnen etwas Neues ein in dieser Kirche. Dort stirbt noch jemand."
Brandts Mundwinkel zuckten. "Was für ein Hungerstreik?"
"Das steht in Ihrer Zeitung."
Brandt drehte den Kopf zur Seite, blickte aus dem Fenster. Der Luftzug des Ventilators hob die Schlagzeilen an der Wand an, die Fotos, die Artikel. "Ganz Österreich bangt mit den Flüchtlingen". Brandt drehte den Kopf zurück, lächelte müde, blickte auf die Uhr. "Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?"
(S. 145f)
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