Leseprobe:
Der Tod ist nichts Schlimmes, dachte Mania und hatte plötzlich Kajas Gesicht vor Augen, die damals so alt gewesen war wie Mania heute. Freitod. Irgendwie lächerlich. Wahrscheinlich hatte Tomek doch recht, wenn er es Mord nannte. Vielleicht nicht ein Mord an sich selbst, eher der Mord an denen, die zurückblieben. Was hatte Kaja gedacht, wie Tomek und Mania danach weiterleben sollten?
Danach hatte Mania jahrelang alles über Suizid gelesen, was sie in die Finger bekam. Sie wollte Kajas Entscheidung begreifen, bis in ihr eigenes Knochenmark spüren, warum diese Frau, die Mania über alles geliebt und bewundert hatte, warum sie sich, obwohl es Mania und Tomek gab, dazu entscheiden hatte können und mit einem Rucksack voller Steine in einen See gestiegen war.
Aber wie viele Studienjahre Mania sich auch mit Depressionen, Schizophrenie, Narzissmus, Borderline- und anderen Persönlichkeitsstörungen beschäftigte, welche soziologischen, ethischen oder wirtschaftlichen Gedankenansätze sie auch abwog, es blieb ungenügend, an Kajas Tod als das Resultat einer Krankheit, einer Störung, einer Gesellschaftsordnung, materieller Rahmenbedingungen oder einer Zusammensetzung aus all dem zu denken.
Abendelang hatte sie den Kopf in den Schoß ihrer Großmutter gelegt und geweint und ihre Großmutter hatte ihr so lange durchs Haar gestreichelt, bis der Schmerz und die Wut besänftigt waren.
Kajas Tod war Kajas Entscheidung gewesen. Und Marinas Tod sollte Marinas Entscheidung sein. Das würde Mania respektieren. Solange Tomek bei ihr blieb!
Jetzt wischte sich Mania mit ihrem T-Shirt die Tränen aus dem Gesicht. »Erwachsen zu sein«, erklärte sie dem alten Mann in der Straßenbahn, der sie noch immer anstarrte, »hat wirklich keinen Mehrwert.«
Ein Jahr nach Kajas Verschwinden wurden Mania und Tomek zu einer Psychologin geschickt. In der Schule hatte es einen Vorfall gegeben. Sie wusste nicht, ob sie oder Tomek oder sie beide in den Vorfall verwickelt gewesen waren. Die Bilder in ihrem Kopf waren diffus und nicht chronologisch. Sie wusste nur, dass es mit Gewalt zu tun gehabt hatte. Sie merkte sich den Namen Roland K.
Sie wusste, dass sie mehr wusste als das, aber sie wollte nicht mehr wissen.
Zu detaillierteren Informationen hatten sich weder ihre Mutter noch ihr Vater noch Tomeks Vater später überreden lassen. Als hätten sie vereinbart, über das Geschehen zu schweigen, und auch in den therapeutischen Sitzungen erinnerte sich Mania nicht, darüber gesprochen zu haben. Tomek zu fragen scheute sie sich, und von sich aus sprach er nie darüber. Mania wusste, dass er es wusste, denn Mania wusste es auch. Es gab Wissen, das vorhanden war, ohne dass sie darauf zugreifen konnte. Als Kajas Leiche gefunden worden war, hatte es für Mania keinen Zweifel gegeben, dass sie nach Berlin gehen musste. Auch das hatte sie gewusst. Und jetzt wusste Mania, dass Tomek ihre Entscheidung sofort richtig verstanden hatte.
»Es muss doch einen Grund gegeben haben«, beharrte Mania manchmal schwach, wenn sie ihre Mutter in Warschau besuchte und sie auf die Zeit vor und nach der Wende, vor und nach Kajas Verschwinden zu sprechen kamen.
»Kajas Verschwinden hat uns alle schwer getroffen. Und ihr wart noch Kinder.«
»Aber das war es nicht nur. Da war noch etwas. Ich meine, ihr seid doch nicht alleine auf diese Idee gekommen.«
»Findest du es so ungewöhnlich? Heutzutage.« Mania unterbrach ihre Mutter.
»Heutzutage, nein. Aber damals! Wer aus deiner Familie oder auch Papas Familie hat jemals eine Therapie gemacht, geschweige denn seine Kinder zu einem Psychologen geschickt?« Erst schwieg Manias Mutter. Dann glitt ihr Blick zu Boden. Dann zündete sie eine Zigarette an. Immer dachte Mania, dass sie jetzt damit rausrücken würde und dass danach auch Mania wieder darüber sprechen können würde, weil sie sich sicher sein würde, dass es wirklich passiert, dass es wahr war.
»Ja, es gab da diesen Vorfall in der Schule«, begann ihre Mutter verheißungsvoll. »Danach wurden dein Vater und ich und Tomeks Vater zum Direktor geladen. Nach dem Gespräch war klar, wenn ihr an der Schule bleiben wollt, müssen wir euch zu einer Psychologin bringen.«
»Ja! Aber weshalb?!« Mania musste sich zusammenreißen, nicht vor lauter Verzweiflung zu schreien. Ihre Mutter zögerte und Mania hoffte.
»Das weiß ich nicht mehr, Liebes«, sagte sie schließlich.
(S. 67-69)
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