Leseprobe:
DAS GEFANGENE HERZ
Dabei hat alles mit einer lässlichen Sünde begonnen, mit dem harmlosen Streich zweier neugieriger Buben. Wären wir dabei ertappt worden, es hätte uns im schlimmsten Fall eine saftige Strafe eingebracht. Ach, hätte man uns nur erwischt! Jetzt ist es zu spät, um die Sache zu beichten: Kein Mensch würde mir glauben, was ich zu erzählen habe. Ich muss es wohl selbst in die Hand nehmen, ich muss noch einmal hinauf in diese Schreckenskammer, koste es, was es wolle …
Zugegeben, ich habe eine Höllenangst. Aber es geht nicht anders; es gilt, herauszubekommen, was geschehen ist. Ich muss wissen, wer da auf einmal neben mir in der Schulbank sitzt, im Schlafsaal liegt, wer dieser Fisch in Menschengestalt, diese Kreatur mit den kalten Augen ist, die bis vor wenigen Tagen mein bester Freund Julius war. Wenn sie das Licht löschen, werde ich aufbrechen. Ich kann nur hoffen, er merkt es nicht …
Aber der Reihe nach. Meine Eltern besitzen einen kleinen Bauernhof oben in den Bergen. Dort ging ich auch zur Volksschule, bis vor drei Jahren, als ich zehn wurde. Damals nahm mich mein Vater zur Seite. »Josef«, sagte er, »du bist ein gescheiter Bub. Dein Bruder wird später einmal den Hof übernehmen. Aber aus dir soll etwas Besseres werden. Wenn du ein ordentliches Internat besuchst, kannst du danach in der Stadt studieren. Das ist gerade das Richtige für dich.« Ich hatte wenig Lust auf diese Art Erziehung, aber der Vater schickte mich dennoch hierher, in die Villa Klammheim, das älteste und angesehenste Knabeninternat weit und breit. Schon bei der Ankunft wirkte das Gebäude gespenstisch und Ehrfurcht gebietend auf mich, glich es doch eher einer Geisterburg als einer Urlaubsvilla. Im hintersten Winkel des Rabenbachtals gelegen, stemmt sich das Bauwerk trotzig gegen die Steilwand, und die Gischt des nahen Wasserfalls hüllt seine efeuumwachsenen Erker und Giebel in dichte Nebelschleier. Nur der mächtige Nordturm ragt manchmal aus dem Dunst und wird von einem der Sonnenstrahlen gestreift, die sich – selten genug – in die Schlucht verirren. Ein Ort der Schwermut und der Düsternis: das war mein erster Eindruck von Klammheim. Ich muss gestehen, dass ich am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht und das Weite gesucht hätte. Aber das Schulgeld war bereits gezahlt, und entgegen meinen Befürchtungen schienen die Lehrer recht freundlich zu sein, also schwieg ich – und blieb. Außerdem war da Julius. Er kam am selben Tag wie ich nach Klammheim, und wir wurden rasch die besten Freunde. Julius ist groß, ein wenig ungelenk und schlaksig, er trägt dicke Brillen, hinter denen sich freche, neugierige Augen verbergen. Nein, verbargen …
Am Anfang wirkte Julius wie einer, der völlig arglos, ja beinahe einfältig durch die Welt geht. Sein unschuldiges Gehabe bewahrte ihn auch vor mancher Strafe, denn in Wahrheit hatte er es faustdick hinter den Ohren. Kaum eine Woche verging, in der ihm nicht ein neuer Streich, eine neue Eulenspiegelei in den Sinn kam. Die Sache mit den Kröten im Speisesaal? Julius. Die vereisten Lehrersessel? Julius. Die Schlammdusche in der Eingangshalle? Julius, wer sonst? Drei Jahre ging es so dahin, in denen mich die Possen meines Freundes für die Strenge des Internatslebens entschädigten. Aber dann, es ist noch keine Woche her, raunte mir Julius eines Morgens im Waschraum zu: »Hör zu, Joschi: Wir schauen uns im Nordturm um. Heute Abend. Ich erzähl dir dann, warum …«
Der geheimnisvolle Nordturm also. Der versperrte Trakt der Villa Klammheim. Es ist den Schülern streng untersagt, den Nordturm zu betreten, das ist die erste und oberste Regel, an die sich jeder Neuankömmling zu halten hat. Dieser Teil des Gebäudes sei baufällig, heißt es, und so bestehe Gefahr, von herabfallenden Steinen und Balken getroffen zu werden. Wenn die jährlichen Herbstwinde durch das Rabenbachtal jagen, spielen sie auf dem Nordturm wie auf einer gewaltigen Flöte. Dann pfeift der Sturm durch die leeren Fensterhöhlen, dass es klingt wie ein Klagen und Seufzen aus dem Leib eines geschundenen Riesen. Nicht zuletzt deshalb ranken sich wilde Gerüchte um den Turm, Geschichten aus alten und dunklen Zeiten, Legenden von Drachen und Blut und von lebendig eingemauerten Kindern.
(S. 102-105)
© 2020 Picus Verlag, Wien