Frei konnte ich nur sein, als ich Tschakko noch nicht begegnet war. Er macht, daß es hinter den Bergen schwarz ist und trotzdem nicht aufhört. Kein helles Pünktchen mehr, nicht eines. Von Sternen im eigentlichen Sinn gar nicht zu sprechen. Ich darf nicht weiterphantasieren, muß mich darauf beschränken, was er erzählt hat.
Also: Niemals sprach er von Leichen im Fluß. Dennoch: Bei jedem Teppich, den ich zum Beispiel im Fernsehen sehe, fallen mir seine Opfer ein. Ich weiß ja nicht einmal, wie ein Toter aussieht.
Es kann vorkommen, daß ich mich zurücksehne nach der Zeit vor Tschakko. Da war ich einfach aufgestanden, hatte mich in den Fernsehsessel gesetzt und den Fernseher angeschaltet. Ich zappte alle Programme durch. Es war erst fünf Uhr in der Früh. Am liebsten hatte ich es, wenn eine Zugfahrt gefilmt worden war und man einfach nur sehen konnte, wie der Zug durch eine Landschaft fuhr, Häuser vorbeiflogen, Bäume vorbeiflogen. Live. Der Himmel war noch tiefgrau oder violett, fast schwarz von der Nacht, und oranges Licht mischte sich an den Bergrändern auf. Ich vergaß die Fernsehumrahmung und sah mich selber im Zug sitzen. Ich hatte mir vorgestellt, daß ich in der ersten Klasse Liegewagen liege und vom Fenster aus auf die vorbeifliegenden Berge schaue.
Tschakko sieht aus, als hätte er Hunger. An den Adern seiner Schläfe sehe ich seinen Puls schlagen. Die Hose schlottert, obwohl sie eng geschnitten ist. Seine Haut hat lange keine Sonne gesehen. Auf der Oberlippe wächst ihm Flaum, der wie Asche aussieht. Er will seine Haare verfilzen lassen. Er kämmt sie aus Prinzip nie, wäscht sie mit Schmierseife, spült nur das Gröbste aus. Vom Seifenrest werden die Haare steif, und er dreht sie zu Rastazöpfen. Er sieht mich mit denselben Bernsteinknopfaugen an, wie mein Bär sie hat. Sein Mund ist wundgerieben, und einmal beim Lachen ist ihm die Haut an den Lippen gerissen. Es blutete.
© 1999, Piper, München, Zürich.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.