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Sie kuschelte sich in den gut gepolsterten Sessel der vierten Reihe.
Das Programmheft verriet, dass heute Maestro Lunti das Staatsopernorchester dirigieren würde. Die Namen der Sängerinnen und Sänger allerdings sagten Lilly nichts mehr, klangen sie zudem recht fremd für ihre Ohren. Offensichtlich hatte die Staatsoper aus Budgetgründen einmal mehr eine italienische Produktion eingekauft.
Arglos blätterte sie weiter im Programm - und traute ihren Augen nicht, als sie bei der Biographie des Komponisten abermals dem Vanity Flair-Bild Vincenzo Bellinis entgegenblickte.
Erschrocken ließ sie das Heft fallen
"Darf ich?"
Die nette ältere Dame zu ihrer Rechten, die gerade mit dem Zurechtrücken ihres silbernen Fußkettchens beschäftigt war, reichte ihr das Büchlein entgegen.
"D-danke", stotterte Lilly, "das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen..."
Etwas verdattert sah sie in die Augen ihrer Nachbarin.
Blitzende Blausteine leuchteten ihr entgegen, die nur unscheinbar hinter einer altmodisch anmutenden Nickelbrille verborgen waren. Über den wohlförmig gezupften Augenbrauen zeichneten sich leichte Stirnfalten ab, die durch üppig aufgetragenes Puder gerade noch überdeckt wurden. Der viel zu weiße Haaransatz glich beinahe einer Perücke und ließ die vornehme Erscheinung wei aus dem neunzehnten Jahrhundert wirken.
"Sind Sie Musikstudentin?"
Sorgfältig geschminkte Lippen verliehen dem Gesicht einen äußerst sanften Anschein.
"Ehm - nein, ich habe eher weniger mit Musik zu tun."
"Ah, ich verstehe... Dann haben Sie die Karte also vermacht bekommen und Ihre Begleitung ist womöglich verhindert?"
"Ja, genau, das stimmt. Woher..."
"...woher ich das weiß?", neigte die ältere Dame den Kopf, "...nun, ich selbst bin Großmama, und meine Enkel haben eine gewisse Ähnlichkeit mit Ihnen..."
Mit gespitzten Fingern, deren Nägel im Farbton der Lippen lackiert waren, nahm sie die Schubertbrille ab.
"Kennen Sie die Norma? Meiner Meinung nach ist sie die schönste Oper Bellinis... - - Da!", richtete sie sich auf, "war er nicht wunderschön, Signor Vincenzo?"
Dabei deutete sie auf Bellinis Konterfei.
"Ja, in der Tat...", musste Lilly lächeln, als sie zum wiederholten Male mit dem Potrtrait des Komponisten konfrontiert wurde, "...ich nehm' mal an, die Mädels würden heute noch auf ihn abfahren..."
Ein Hauch von Rot huschte über die Wangen der älteren Dame, die schnell das Programmheft zuklappte und ordentlich glattstrich.
"Übrigens", legte ihre Sitznachbarin die Hände übereinander, "wissen Sie, dass heute ein ganz besonderer Tag ist?"
Der Blick der Frauen begegnete sich.
"Heute", wisperte die Alte dem Mädchen zu, "heute Abend, am 26. Dezember, wird die Norma uraufgeführt... und Sie und ich, Lilly, wir beide dürfen dabei sein..."
©2001, Books on Demand, Deutschland.
Publikation mit freundlicher Genehmigung der Autorin.