Jetzt nur keinen Fehler machen. Er legt ganz besonderen Wert auf Tischkultur. Sitze ich gerade? Nur nicht lümmeln! Strecke ich die Ellbogen weg? Nur nicht! Ja nicht mit dem Mund zum Essen! Noch was? Nein. Ich hab mir alles gemerkt.
Ich nehme mir eine Semmel, greife zum Messer und schneide sie auf. Vorsichtig, damit keine Brösel auf das Tischtuch fallen. Gelungen. Zu Hause würde ich jetzt das "Weiche", wie meine Mutter zur Krume sagt, herausessen, aber heute - bei ihm - lieber nicht. Ich glaube, daß man das nicht tun darf, wenn man sich gut benehmen will - also verzichte ich auf diesen Genuß. Ich streiche Butter auf die Hälfte der Semmel. Nun noch die Marmelade, und ich hab es geschafft - ohne Fehler! Ich fahre mit meinem Messer in das Marmeladeglas. Plötzlich faßt er meinen Arm und nimmt einen kleinen Löffel, der neben dem Marmeladeglas, für mich nicht sichtbar, gelegen ist. Er schlägt mir mit dem Löffel auf die Finger. Ich schreie auf und lasse das Messer auf das weiße Tischtuch fallen. Er schlägt und schlägt unaufhörlich auf meine Finger. Ich höre zu schreien auf. Noch hat er nicht genug! "Wozu, glaubst du, hat Helga diese Löffel neben die Marmeladegläser gelegt?", und er schlägt weiter mit einem jener Löffel auf meine Finger. "Wozu, glaubst du? Zur Zierde? Bringt euch eure Mutter denn überhaupt nichts bei? Mein Sohn muß zumindest die primitivsten Umgangsformen beherrschen! Wenn deine Mutter dazu nicht fähig ist, dir diese beizubringen, dann mußt du es eben selbst tun! Oder willst du, wenn du einmal ein junger Mann bist, von den anderen ausgelacht werden? Mein Sohn darf nicht ausgelacht werden! Also sorge dafür, daß das nie passiert!" Er läßt meinen Arm los und lehnt sich, fast erschöpft, zurück. Helga, Michael und Katharina haben während dieser Szene genüßlich weitergegessen. Ich lege mein Messer auf meinen Teller, nehme einen Löffel und gebe Marmelade auf die Semmelhälfte. Den Löffel stecke ich in das Glas. Helga grinst mich an. Ich klappe die Semmelhälften zusammen und beiße hinein. Wieder nimmt er den Löffel. Schnell verstecke ich meine Hände unter dem Tisch. Doch nichts. Kein Wort. Keine Schläge. Er gibt nur ein bißchen Marmelade auf seine Semmel. Ich glaube, daß das Zusammenklappen der Semmel gerade noch gebilligt werden konnte, oder aber er hat es nicht bemerkt. Es ist ihm entgangen. Ich sehe ihn an und grinse. Mir ist zwar nicht danach, aber ein nettes Lächeln kann helfen, jemanden zu besänftigen. Er sagt nichts.
(S. 8f.)
© 2003, Resistenz, Linz, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.