aus "Warum Neapel?"
"Was", fragt Paul mit so einer komischen Schlangenlinie um die Lippen. Ich beuge mich vor und sage: "Den Zauber". Den Zauber in der Höhle der Sibylle. Weil hier etwas zu spüren ist, was ich an keinem Ort bisher gespürt habe. Nämlich, fragt Paul und ich frage ihn, ob er noch Wein wolle, versehentlich mache ich einen Schlenker über seinen hellen Pullover, du bist ja besoffen, sagt er, und ich sage, ja, ...
... und ich denke an die Höhle der Sibylle, die Paul weniger interessant fand als den Ausblick aufs Meer, und in der ich mich hinhockte, ganz hinten in dieses merkwürdige Licht. Und diesen Schmerz spürte.
"Welchen Schmerz?" fragt Paul, und ich sage, den Schmerz darüber, daß die Verbindung zu etwas sehr Altem, sehr Fremden unwiederbringlich verlorengegangen sei. "Spagetti vongole", sagt der Kellner, aber genau in diesem Schmerz sei das Verlorene aufbewahrt gewesen, "buon appetito", sagt der Kellner, kannst du mir folgen, frage ich, Paul grinst, wohin du willst, er schiebt die Gabel in seinen Mund, die Wunde der Zeit, habe ich einmal gelesen, sage ich, werde offengelegt an bestimmten Orten, denn nur das Gedächtnis der Orte könne der Furie des Verschwindens etwas entgegensetzen, dein Essen wird kalt, sagt Paul mit einem Unterton, es ist köstlich, weißt du, daß ich nun eine Ahnung davon habe, sage ich, was man unter mystischem Erlebnis versteht, wie bei gutem Sex, sagt Paul, Parmeggiana, sagt der Kellner, Prost, sage ich, und dann essen wir dieses göttliche Essen, trinken die Flasche aus, zahlen und trinken noch den Limoncello des Hauses, und viel später, nach einem taumeligen Fußmarsch durchs nächtliche Neapel, zurück zur Piazza Garibaldi, hinein in unsere Straße, in der Schatten im Müll herumspringen und ich nicht an Berlin denken will, öffnet uns ein verschlafener Nachtwächterstudent das Hotelgittertor, und dann, dann werfen wir uns gegenseitig und lachend in unser viel zu weiches Bett.
(S. 113f)
© 2009 Haymon Verlag, Innsbruck-Wien.