Dialektik und Paradoxalität.
Oder über die entsetzliche Untiefe der Lebensgeheimnisse im Sprachspiel.
Nachbemerkung zum "offenen schloss"
Herbert J. Wimmer hat sich begleitend ständig aus konkret-poetisch minimalisierenden Romanexperimenten in lange Textabläufe gestürzt. Doch auch sie läßt er nun nach der Flachen Kugel unter einem paradoxalen Titel erscheinen: das offene schloss. Gewiß geht es dem Wiener Autor dabei um Anspielung auf jenes berühmte "Schloß" des Franz Kafka aus Prag. Demzufolge steckt nicht wenig Selbstanspruch im Titel des Autors, möchte man meinen.
Aber Wimmer geht es nur um den dichterischen Mythos, den Franz Kafka mit seinem Romanwerk zum Wortfeld Schloß eingeliefert hat, das Wort beim Wort nehmend. Es hat ja ein Merkwürdiges mit der Sache des Worts in Zusammenhang mit dem Wort selber historisch auf sich. Von Schlössern begann man ja gerade zu reden, als sich die überwiegend funktionale Militäranlage der Defensive namens Burg zu verwandeln begann zu Objekten einer symbolisch-allegorischen Demonstrativität der Macht mit Übergewicht der Darstellung statt der Funktion. So öffneten sich scheinbar die für reale Verteidigung wenig geeigneten Schloßanlagen breitbrüstig zu einsehbaren Theaterräumen der Machtkonzentration gegen den Sinn des Worts Schloß als Abgeschlossenheit oder Verschlossenheit, wie es scheint? Doch einerseits blieb das Schloß der Burg gleich ein Verteidigungsinstrument, nur nicht real-funktional, sondern es verteidigte symbolisch die Macht gegen alle. Aber ihr eigenes Scheitern mußten alle visuell erleben können, daher die breitbrüstige Öffnung zu Theaterräumen, in die alle Einblick hatten. Betreten und beleben aber durften nur Wenige diese Theaterräume entweder als die wenigen Schausteller der Macht oder als deren wenige Techniker und Ordnungspolizisten bis zu den Pförtnern. Insofern kommt der urprüngliche Sinn des Worts Schloß wieder nachhause. (Näheres und Weiteres siehe Prosafeld Nr. 73.1)
Und diese Dialektik der verschlossenen Offenheit oder offenen Verschlossenheit, die als Dialektik keine Paradoxie meint, sondern das bestimmte Ineinander beider Faktoren zu einer phasenweise selbstregulativen Struktur und ihren Krisen hat bekanntlich keiner so gründlich entfaltet wie Franz Kafka in seinem entsprechenden Roman. Schloßhafte Schlösser lassen die Hoffnung nicht fahren, man könne schließlich Zutritt sich verschaffen, wo man doch so viele wechselnd schwankende Eindrücke, Einblicke erhält. Kafka meinte diesen Mythos als Ausdeuten der conditio humana. Und nur in Hinblick auf diese Ausdeutung der existenziellen Befindlichkeit will Wimmer die Auseinandersetzung aufnehmen, ohne im übrigen irgendwie mit Kafkas Dichtung zu konkurrieren oder sie zu transformulieren. Schließlich schon allein ballt er nicht den sprachlichen Ausdruck zu Konzentraten aus Satzbildern, sondern er läßt die Sätze assoziativ fließen, wie er im Roman solches Motiv selber zum Thema macht. Aber entgegen Kafkas Sicht des Lebens als einer unnachlaßlichen Intention auf das Eindringen in sein Geheimnis, die ebenso unnachlaßlich provoziert und abgewiesen wird, stößt Wimmer auf lauter Geheimnisse der gesellschaftlichen Existenz, die sich mit der Intention ihrer Lösung, eigentlich schon vor ihr, gelöst haben, allerdings gelöst zu lauter Paradoxien. Die Produktionsbetriebe wollen Produktion, weisen aber die Produzenten aus sich aus. Der Literaturbetrieb will Literatur, weist aber Literatur aus sich aus. Geklärt werden diese Paradoxien ohne Tiefe wiederum durch den Standard. Der Produktionsbetrieb will nur durch das Hin und Her von Werbung und Einschaltquotenmentalität, genannt Marketing, gesetzte Standardprodukte in Prozessen der standardisierten Innovation bei Wechsel der Produktgenerationen und Produkterfindungen. Das gilt noch für die scheinbar Fremde suchende Touristik. Da fällt nach und nach viel Qualifikation der lebendigen Arbeitskraft aus. (Beispielsweise die Prosafelder Nr. 14.1, 16.1 oder 30.2)
Und die Literatur?, sie will entsprechend auch nur bestimmte Literaturstandards und die standardisierten Innovation dessen. Der computerproduzierte Kitschroman steht ins Haus, und einige Varianten von der Stange drumherum. (Beispielsweise die Prosafelder Nr. 65.1 oder 69.2)
Was sollen neben den standardgerecht produzierenden Maschinen noch die Standards bei aller Professionalität nie ganz einhalten könnenden Literaten mit ihrer bloßen Handwerkelei? Im Handgemenge mit solchen Erwägungen, Durchwägungen sozial fungierender Strukturen der Einschaltquotenmentalität, die die lebendige Arbeit Zug um Zug auszuschalten beginnt, der Prozeß wird in essayistischer Form als allgemeine Reflexion in dem einen der beiden Textfelder pro Kapitel vorgetragen, dem ersten, mit dem darin zur Sprache Gekommenen im Handgemenge eben entwickelt das 2. Textfeld pro Kapitel die "Beziehungskiste" in Reihung novellistisch, wobei sich eben die Novellen verflechten zu einem offenen Gleichsamroman, der fast zu Schicksal verdichten läßt und mit Personen in ihrem Verkehr zu tun hat. Mythisch werden sie Adam und Eva genannt ("bei Adam und Eva anfangen"), wenn die Figuren nicht grade Anna und Otto heißen oder allgemeiner zugeordnet als Freund und Freundin auftreten, ihr Verkehr wird im Autorenich aus der Warte Adams dargestellt.
In Spiegelungen mit dem essayistischen Textfeldern hängen auch die erzählerischen Textfelder in einer Dialektik, die sich zu Paradoxien ihrer Oberfläche auflöst, um auf der Stelle zu treten und den Geheimnissen der Kommunikation ihre Tiefe zu nehmen. Es geht darum, daß Kommunikation als Prozeß der Vergemeinsamung Einsamkeit voraussetzt, entgegen ihrer als Zustand, der die Einsamkeit verfemt und für leidvoll erklärt. Die Kommunikation wäre aber im Zustandscharakter blindes, stumpfes Zusammengehörigkeitsgefühl, das dann in der Tat gemäß Vilem Flussers Sicht alles informierend-Innovierende als feindselige Störung empfinden und aus sich ausweisen müßte. Im Prozeß erst, der den Faktor der Einsamkeit als Faktor, also Wirkungsmoment erfordert, wird Kommunikation innovativ, sie gefährdet zwar sich selber, aber das ist der Preis ihrer wenn auch noch so saturnalisch-melancholischen Lebendigkeit.
Wimmers Skeptizismus existenzieller Art läßt die beiden Positionen des Zustands und des Prozesses der heutigen Wirklichkeit entsprechend sich so aneinander abarbeiten, daß in einem Patt immer wieder Paradoxalität eintritt, die sich neuerlich dialektisiert zu Konfrontation und satzweiser Auseinandersetzung, bis alles wieder auf der Stelle tritt für eine Phase, seis des Nebeneinanders, seis der Einsamkeit.
Durchwoben ist diese Paradox erzeugende und verlassende Beziehungsdialektik, von der schon Hegel seine Erfahrungen hatte, durch eine postmoderne Wiederauflage der Erwägungen über den Mythos von der Souveränität des Freitods auf dem Hintergrund einer bohrenden Furcht vor dem morphin-unterversorgten künstlichen Tod der Moderne in den unentrinnbaren Armen des Medizinbetriebs (siehe Prosafeld Nr. 70.2), falls man klinikreif erkrankt und so den Rest an Mündigkeit in der heutigen Gesellschaft verliert. Ich benutze hierzu absichtlich die Formel eines Tods der Moderne in Ambivalenz. Denn einmal meine ich nur das Simple der Organisation von Sterben heute, den modernen Tod, andererseits mutmaße ich, daß die Moderne selber besonders an ihrem Umgang mit dem Tod zu Tode kommt. Und diese Ambivalenz hat Wimmer klärend in die Darstellung gezwungen. Doch nicht darin passiert bei ihm die Paradoxe erzeugende Dialektik, sondern in der Begegnung des Mythos von der Souveränität des Freitods mit der Nachhaltigkeit unerläßlicher Neugier darauf, daß alles anders werden könnte, jenes zähe Motiv absurder Hoffnung, unerstickbar durch ständige Widerlegung, das Franz Kafkas Helden im Rest von Wunderglauben oder Glauben an die eigene List im eigenen Geschick vor dem Schloß verharren läßt. Nur daß nach Wimmer auch dieses Motiv in seiner Charakterisierung als das Minimale der Neugier in Auseinandersetzung mit einem umstandslos-technisch gegen Schmerz abgesicherten Selbstmord die metaphysische Tiefe fahren läßt wie bei den anderen von Wimmer thematisierten "Geheimnissen" des Lebens desgleichen, indem Dialektik laufend ohne Austrag in Paradoxie umschlägt.
Sie kann nicht anders: die entsetzliche Untiefe eines überinformierten, eines "ausgekochten" Lebens?, das sich seiner Verwandlung in kommunikatives Sprachspiel voll bewußtgeworden ist und solches unter den Bedingungen einer Verabsolutierung der Einschaltquotenmentalität? Diese muß ja alle Geheimnisse ins Untiefe ziehen oder schleppen. Sonst würde die Kommunikationsmühle knirschend zum Stillstand kommen. So knirschend, wie die Vorwürfe sich gegen die artikulieren, die man der Unverständlichkeit zeiht. Was bleibt, sind die im wütenden Anspruch auf totale Sofort-Verständlichkeit erzeugten reinen Oberflächen offener Schlösser untiefer Geheimnisse. (Beispielsweise Prosafeld Nr. 18.1)
Hat Herbert J. Wimmer um des Ineinanderflechtens von essayistischer Reflexivität mit minimalisiertem Erzählen willen seine konkret-poetischen Leidenschaften verlassen? Nein! Da ist einerseits das "Ohne Punkt und Komma" einer durchgängigen Kleinschreibung, in dem sich offensichtlich der Strömungscharakter des Vorstellens oder Denkens sichtbar machen möchte, das Gleiten der Assoziativität. (Zum Stichwort "Interpunktion" siehe beispielsweise Prosafeld Nr. 44.2) Zwar hat Paul Virilio vom Paradigma des Films her die überzeugende Einsicht gewonnen, daß das Vorstellen wie das Träumen gar kein Strom sei, sondern durchsetzt von Katalepsen, Einschnitten der Ausfälle aus dem Vorstellen in regelrechter Reihung, wie die Grenzlinien zwischen den Einzelbildern auf dem Filmstreifen. Das Bewußtsein überspiele das nur wie der Projektor.
Nun aber hat auch die von Wimmer gewählte Schreibweise lauter Einschnitte zwischen den Buchstaben und den Wörtern wiederum eben und in gleicher Verteilung, während Klein-/Groß-Schreibung wie Zeichensetzung hierarchisieren. Und schließlich ist ja der Schein eines Vorstellungsstroms, Denkstroms etc. durch das überspielende Bewußtsein eine sekundäre Wirklichkeit, von der wir nicht loskommen. Die Schreibe Wimmers drückt das aus. Auch die gleiche Quantität der Textfelder (154 = zwei mal 77) 1 und 2 ist keine bloße Spielerei. Die assoziativen Ströme des Gehackerten werden vom Autor im Nachhinein portioniert, rationiert (zu jeweils 77 Druckzeilen), eine zweite Ebene, in der ja schließlich eben auch die Verteilung auf essayistische Reflexivität des jeweiligen Texts 1 und auf die minimalisierte Narrativität des Texts 2 passiert. Man soll am wenigsten den Gesamt-Text für chaotisches Überkodieren als ein Überkochen halten, er köchelt in verhaltener Kontrolle, gewürzt durch das Raffinement vieler gezielter Wort-, Wortbild-, Wortton-Spiele eines immer wieder erwachenden Aha's!
So sucht Wimmer mit konkret-poetischen Verfahren die Grundansicht seines Ambivalenz- (zum Stichwort "Ambivalenz" siehe Prosafeld Nr. 59.2) oder Paradoxromans zu unterstützen in der Rede von der Untiefe oder dem Oberflächencharakter der Geheimnisse von heute, in der Rede von der Offenheit der Schlösser heute. Wird heute ein neues Verschlußverfahren erfunden, ist zuvor schon das Verfahren erfunden, wie man es aufbrechen kann. Wimmers Ambivalenz-Roman durchleuchtet uns unsere Realität im Zeitgeist der phantasierenden Maschinen.
Hochschule für Gestaltung, Offenbach am Main
August 1998
... ich allerdings, riss sich jemand aus dem zusammenhang zu seinem zusammenhang zusammen, erlebe mich als vergesellschaftetes individuum im augenblick musterhaft individuierter ausschnittlichkeit, als ausschnittsmenschen, als otto ausschnittsverbraucher, so erfahre ich unsere gegenwart als beginn der zukunft ... (wimmer, nach mannheim, karl)
... eine an gegenwärtigkeit zunehmende weltgesellschaft fantasierender reflektierender wechselwirkender bioelektrischer introspektions-maschinen ... (wimmer, nach schmidt, burghart)
Und die einzigen Grenzen, die sich durch solches erwartbare Erwartungsfeld ziehen, sind ethisch die Massenfolter wie der Massenmord, existenziell der Einfall wie proust- oder blochförmig mystischer Augenblick und sozial das Erlernen / Erwerben der Kompetenz zu langer Weile wie Langeweile. (schmidt nach wimmer, als der von 'nach mannheim karl' zu 'nach schmidt' überging.)