6. VERSUCH ÜBER UNGESCHEIDEN
Der Chronist hat, wie nicht anders zu erwarten, Vermutungen, die in die andere Richtung sich bewegen. Er fand ein Bild, vom Felsen, bevor er gesprengt wurde, es hat in seiner Familie überlebt. Da, seiner Meinung nach, eine Burg abgebildet, eine alte, schon ramponierte, erkaltet bis zum letztmöglichen Erkennen der Form, aber, so sagt er, eine Burg. Ein Bild. Und er führt weiter an: Im Keller des Hauses seiner Mutter, der als Weinkeller gebaut und verwendet lange Zeit, schaut ein Quader heraus, der von der Burg stammen könnte.
Er lugt aufdringlich um Aufmerksamkeit, mit seiner Andersartigkeit, seiner Wichtigkeit um seine Geschichte, so meint der Chronist. Er ist ihm nicht unbedingt nur wohl gewogen. Die Distanz des Chronisten ist verständlich: würde er enthusiastisch ihm verfallen, voll Freude über die steingraue Interpretation seines Fundes, oder das was sich ihm aufdrängte, wenn es ihn in den kalten und luftigen Keller verschlug, so spann er die Worte weiter, er würde sich niederknien. Aber da dachte er weiter, warum solle er denn nicht knien oder eine ähnliche, geworfene Haltung einnehmen, sich einfach auf den Stein einlassen, was er zu erzählen hatte, er buhlte nicht um Beachtung, er hatte zu erzählen. Also setzte sich der Chronist, auf einer Decke vor dem Stein, eine warme Tasse Tee neben sich mit einer Thermosflasche, und wartete. Wartete, was vom Stein kam. Die Verbindung von Stein und Bild, des dreidimensionalen im Keller und des zweidimensionalen im obersten Stockwerk, war nun solcherart, nur in des Chronisten eingeschliffenem kritischen Bewusstsein entstanden, das er nun hinterfragte. Selten ging es voran wie hier, er saß und schaute mit halbgeschlossenen Augen und nahm den Stein in sich auf, umschloss und durchdrang den Stein mit seinem Bewusstsein und hörte. Er saß und hörte. Und der Stein begann zu sprechen. Leise zuerst wurden die gespeicherten Geschichten abgegeben, flossen zu einem mächtigen Strom. Der Chronist nahm alles in sich auf, brach ab gegen Mitternacht. Eine ungeschiedene Vergangenheit war auf ihn hereingebrochen. Ungescheiden, so kam der Schluss, ist ein Zustand, der Sprache, der Welt.
© 2010 Labyrinth Verlag, Wien.