Meine Stadt heißt Kemnath. Es gibt sie seit gut 800 Jahren, und bevor Kolumbus Amerika entdeckte, ging es ihr wirtschaftlich halbwegs gut. Zahlreiche Eisenwerke gab es in den umliegenden Bergen, dazu fand man im Fichtelgebirge auch Silber und ein wenig Gold. Es war nicht viel, brachte aber genügend Wohlstand in die Stadt, dass diese sich mit einem doppelten Mauerring umgürten konnte. Die innere, höhere Mauer war zudem mit mehreren Wehrtürmen versehen, von denen einige von straffällig gewordenen Bürgern als Buße errichtet worden waren. Zwei Zugänge mit Zugbrücken gab es, im Westen und im Osten. Der besonders hohe Torturm im Osten war der Einfachheit halber auch gleichzeitig der Kirchturm. Entlang der Südmauer zog sich der Stadtweiher, den man im sumpfigen Gelände angelegt hatte. Kurzum, ein wehrhafter Anblick. Freilich war diese Verteidigungsanlage in keiner Weise den Anforderungen der modernen Kriegsführung gewachsen, aber nachdem die Stadt, gelegen an einer der vielen Frontlinien zwischen Evangelen und Katholen im Norden Bayerns, im Dreißigjährigen Krieg mehrfach erstürmt, besetzt und geplündert worden war, fehlte es an jeglichem Geld zur Modernisierung, und das über ein Jahrhundert lang. Als ich geboren wurde, waren die Bürger gerade mal aus dem Gröbsten heraus, und sehr viel mehr als das Nötigste ergab sich in den folgenden Jahrzehnten nicht. Vielleicht zählte Kemnath damals 1500 Seelen, mit den umliegenden Dörfern und Weilern mehr, aber mit Wien damals wie heute ist mein winziges Städtchen nicht zu vergleichen. Dennoch liebte ich es, die alten Mauern ebenso wie die Einwohner. Man liebt seine Heimat ... wenn man sonst nichts kennt auf der Welt. Dorthin kehrte ich also im August zurück.
(S. 18f)
© 2002, Mandelbaum Verlag, Wien.
Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlags.