Es ist mir nie gelungen, die beiden zusammenzubringen: die zwei geborenen Erzähler, denen zuzuhören größtes Vergnügen bereitet hat. Um ein guter Erzähler zu sein, muss man zweierlei haben: erstens etwas, das es zu erzählen lohnt, eine Geschichte, und zweitens Respekt vor den Menschen, die zuhören und ein Recht darauf haben, nicht gelangweilt zu werden. Sie hatten beide viel erlebt, gesehen, erfahren in ihrem Leben, das es wert war, erzählt zu werden; und sie würden es sich, höflich wie sie waren, nicht verziehen haben, ihre Zuhörer mit Dingen zu behelligen, die diese nicht für amüsant, aufschlussreich, überraschend, wissenswert gehalten hätten.
Jetzt sind sie beide, nur drei Tage hintereinander, gestorben: Paul Flora, der Zeichner und Bilderschriftsteller, in Innsbruck und Paul Parin, der Begründer der Ethnopsychoanalyse, der erst im Alter seine Geschichten niederzuschreiben und zu veröffentlichen begann, in Zürich. Der eine ist fast 87 geworden, der andere 93. Beiden war es beschieden, bis ins hohe Alter produktiv zu bleiben und fast bis zuletzt täglich das zu tun, was sie am liebsten taten und am besten konnten. Flora, der Sohn eines Südtiroler Arztes, wusste schon mit sechzehn, dass das Zeichnen seine Berufung in der Welt war. Parin, der Sohn eines slowenischen Großgrundbesitzers, wusste im selben Alter, dass er Medizin studieren und lieber Anarchist als Großgrundbesitzer werden wollte.
Sie waren große Reisende, die eine nie gestillte Neugier nach der Welt verspürten, von der sie ihrem dankbaren Publikum dann erzählten – in Zeichnungen und Büchern, aber auch auf die ursprüngliche Weise, bei der man eine kleine Runde um sich schart. Weit herumgekommen, kehrten sie, je älter sie wurden, umso lieber in die kleine Welt der Kindheit zurück: Flora in den Vinschgau, durch den er mich einmal führte, um mir von jedem Ort, von jeder Burg zu erzählen, welche Bewandtnis es mit ihnen für seine Kindheit hatte; und Parin nach Novi Kloster in der slowenischen Südsteiermark, wo er im damals herrlich heruntergekommenen Hotel Stein Logis bezog und mich und meine Frau zu einem Abendessen einzuladen pflegte, bei dem das Essen und reichliche Trinken von Alkohol nur den Rahmen für das eigentliche Programm bildete, das Erzählen von Geschichten, die meist Goldy, Parins fast erblindete, nach seinen Geschichten süchtige Frau, mit ihrem dringend geäußerten Wunsch nach einer ganz bestimmten Anekdote, einer ihr schon bestens bekannten Episode auswählte.
Nirgends kann man inniger verspüren, wie die Zeit vergeht und sie doch in einem selbst aufgehoben bleibt, als an den Orten der Kindheit, die man im Alter aufsucht. Dass die Zeit vergeht, hat die beiden Paule nicht erschreckt, sie akzeptierten das vielmehr als Bedingung, dass sie sich ihrer Existenz und der Schönheit des Lebens bewusst waren. Während die Zeit das Gesicht unübersehbar zeichnet, den Körper formt, bleibt die Seele davon unberührt, in ihr sind alle Zeiten eines Lebens präsent. Ich glaube, Flora und Parin war auch dies bewusst, sie sprachen nicht nur gerne darüber, wie es früher war, sondern auch so, als wäre dieses Früher ein Teil von ihnen, also noch heute in ihnen und mit ihnen gegenwärtig.
In vielem waren sie sehr verschieden, in manchem einander ähnlich, aber ganz glichen sie, die ausgeprägten Individualisten, sich darin, dass sie sich vor dem Glück nicht fürchteten, sondern es für die wichtigste Aufgabe hielten, die dem Menschen gestellt ist: immer wieder das Glück zu erleben.
Von Glück spreche ich, nicht von Zufriedenheit. Wer mit der Welt, ungerecht und unfertig, wie er sie vorfindet, keinen faulen Frieden schließen will, kann nicht zufrieden sein. Glück hat wenig mit dem schalen Gefühl der Zufriedenheit zu tun, und ohne eine gewisse Widerständigkeit ist das Glück, in dem es sich der Mensch nicht wie in einer dauerhaften Bleibe gemütlich einrichten kann, gar nicht zu gewinnen. Ein Glück war es, mit beiden befreundet gewesen zu sein, die auch als Lehrmeister in der edelsten aller Künste bezauberten, in der Lebenskunst.
(S. 116-119)
© 2012, Zsolnay Verlag, Wien.