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Leseprobe: Michael Dangl - Schöne Aussicht Nr. 16.

„Jetzt ist er hineingegangen!“
Sie hält etwas vor dem Gesicht – einen Feldstecher?
„Der sieht aber gut aus.“
Eine Beobachterin von Kleintieren an Teichrändern? – Greenpeace?!
„Nein, der geht schon wieder.“
Wer?! – Der Mann sitzt starr, behält den Blick im Buch. Einfach ignorieren. Dann geht der Schreck von selber wieder.
„Da kommt einer – was ist denn das? Nein, der ist es nicht, das ist … was?!“
Das letzte Wort hat sie geschrieen, dass es dem einen Meter daneben Sitzenden durch und durch gegangen sein muss. Trotzdem bleibt er unverändert mit seinem Buch.
„Ah, der sieht gut aus!“
Eine Wahnsinnige.
„Nein, das ist eine Frau.“
Bloß keine Reaktion zeigen.
„Jetzt kommt Einer – der hat ja ein Kind dabei. Nein, der hat keine Zeitung mit – wir haben nämlich ausgemacht –“, sie wendet sich dem Mann zu, spricht ihn an!, „ – unter dem Arm eine Zeitung. – Nein, der ist es auch nicht; außer er hat seine Frau mitgebracht …“
Jetzt lacht sie, wenn es je ein „schallendes“ Lachen gegeben hat, dann dieses; hoch, nicht unangenehm, nur laut, nur unverhältnismäßig der Stille hier, es schallt über den Teich, schallt über die Enten, die verwundert die Köpfe drehen, schallt in das Wäldchen vis-à-vis und schallt wieder zurück, die ganze Natur ist erschrocken, so muss hier seit Jahren niemand mehr gelacht haben, seit Jahrzehnten. Vielleicht hat vor zweihundertfünfzig Jahren irgendeine Marquise zum letzten Mal so gelacht, als ihrem Kavalier der Federhut ins Wasser gefallen ist, eine Rokoko-Schönheit, der später der Kopf abgeschlagen wurde. Aber das Lachen hat schon wieder irgendeiner neuen Erregung Raum gemacht.
„Nein, der hat ja 200 Kilo! – Mein Gott, der hat einen Hund! – Haben Sie einen Hund? Wissen Sie, da ist immer der Hund an erster Stelle. Aber der hat auch keine Zeitung unter dem Arm gehabt. – Entschuldigen Sie, Sie werden sich sicher wundern …“
Der eben noch so friedvolle Herr ist zum ersten Mal direkt zu einer Antwort aufgefordert, ihr Blick bohrt sich in seine linke Schläfe und versteinert seinen zum Denkmal, zum Sitzbild eines Lesenden geronnenen Körper vollends. Nach Sekunden sagt sie: „Ah, Sie wundern sich nicht.“ – Nimmt aus der Tasche einen Zeitungsausschnitt. „Da sehen Sie: ‚Vielseitig interessierter Mann, Ende 60, wünscht Bekanntschaft mit kultivierter Frau, nicht unter 55.‘ – Habe ich hingeschrieben! Er hat sehr nett zurückgeschrieben, sein Vorschlag: Café Monopoly, Donnerstag, 14.30 Uhr. Und warum sitze ich jetzt da? – Hm?“ – Spielerisch sagt sie das, fast scherzend, was will diese Frau bloß? Nur nicht reagieren. Eine Reaktion, die kleinste, und du bist ihr ausgeliefert, als geübter öffentlicher Leser weiß man das, nur Ignorieren vertreibt die Wespen, die Kontaktheischenden – starres, eisernes Ignorieren.
„Café Monopoly – ja wo ist denn das?!“ – Wie zu einem Kind spricht sie zu ihm. Aber der Lesende wird ja immer für einen Idioten gehalten. Er schüttelt den Kopf, nur leicht, und dabei, man sieht es, wird ihm heiß und kalt, er hat den Fehler begangen! Reagiert! Zugegeben, dass er versteht, dass sie auf eine Antwort wartet, auch, dass er nicht taub ist, sondern nicht hören will. „Also wissen Sie“ – und schon fühlt sie sich mitten im Dialog – „da gegenüber, man sieht genau auf den Eingang hin. Habe ich gedacht, setze dich auf die Bank, dann kannst du ihn schon beim Hineingehen beobachten. Schlau, hm? Und wenn er mir nicht gefällt, gehe ich gar nicht hin. – Da ist er – da sehen Sie! – Na hallo, der schaut gut aus! Was sagen Sie?“
Tatsächlich hat der Mann es, scheint‘s, geschafft, sich wieder ein bis zwei Zeilen auf sein Buch zu konzentrieren und erschrickt durch die forsche Ansprache. Unwillkürlich japst er: „Was?“ – Jetzt hat er auch noch preisgegeben, dass er reden kann, dass er ihre Sprache versteht, zum ersten Mal hat er sogar auf- und zu ihr hinübergeschaut, den Kopf aber gleich wieder weggezogen wie den Finger von einer Herdplatte.
„Jetzt ist er schon drin“, sagt sie vorwurfsvoll. „Der hat eine Zeitung unter dem Arm gehabt.“ Sie betrachtet sich in einem kleinen Taschenspiegel. „Also dann, wünschen Sie mir Glück!“ Steht auf und eilt davon, den Hügel hinter der Bank hinauf, woher sie offenbar auch gekommen ist, seinen Weg!, und verschwindet hinter der Wölbung. Der Mann hat ihr nachgeschaut und liest, aber nur kurz, dann nimmt er eines seiner weiteren Bücher, schlägt es ganz hinten auf, fährt mit dem Finger eine Art Liste entlang, blättert vor und liest halblaut: „Glück ist nur die Abwesenheit von Langeweile. … Alles Glück ist Illusion.“ Und als hätte er damit das Intermezzo seiner unwillkommenen Besucherin abgeschlossen und philosophisch kommentiert, wendet er sich nach einem knappen prüfenden Blick auf die Enten, die auch wieder fast so tun, als sei nichts gewesen, seinem ersten Buch zu, tief einatmend.

(S. 9-13)

© 2012 Braumüller Verlag, Wien.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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