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DER FLUCH DER DEARG-DUE von Arthur Gordon Wolf
Mit übertriebener Geste drehte ich mich weiter auf meinem Hocker herum, und überblickte den leeren Schankraum. Angesichts des hier herrschenden Trubels wäre es wohl mehr als unhöflich, mit Nein zu antworten, entgegnete ich schließlich. Machen Sie es sich bequem.
Sehr freundlich. Mit diesen Worten schob sie den Highball dicht neben mein Guinness und begann dann ihren Mantel aufzuknöpfen.
Es folgte Zauberkunststück Nummer 2.
Sie schälte sich nicht etwa umständlich Ärmel für Ärmel aus dem Kleidungsstück, sondern ließ es binnen eines Wimpernschlages gefaltet in ihrer rechten Hand erscheinen. Auf Bühnen hatte ich derart schnelle Garderobenwechsel mit speziell präparierten Jacken oder Hosen schon gesehen, in einem Pub allerdings noch nie. Erneut musste ich wieder an einen Werbespot oder eine versteckte Kamera denken. Mir blieb jedoch kaum Zeit zum Grübeln, denn das, was meine Augen nun sahen, schaltete den Verstand kurzfristig aus.
Die schöne Unbekannte trug ein ärmelloses, hautenges Kleid aus burgunderfarbener Seide, das mehr verhüllte als verbarg. Ein dünnes Netzwerk aus Spaghetti-Trägern umschmeichelte ihren schmalen Hals und lenkte den Blick hinab auf ein Dekolleté, das bis zum Nabel zu reichen schien. Ihre vollen, festen Brüste drohten dabei jeden Moment, den hauchdünnen Stoff zu zerreißen. Als sich das unwirkliche Wesen neben mich auf den Hocker schlängelte, erkannte ich zudem, dass das Kleid an einer Seite bis zur Taille geschlitzt war. War dies lediglich geschehen, um den Schenkeln der Trägerin mehr Freiraum zu geben oder um Betrachtern noch weitere Einblicke zu gewähren? Meine Augen jedenfalls kannten die Antwort.
So ist es doch gleich viel bequemer, sagte meine Nachbarin und strich sich einige ihrer Feuerlocken aus der Stirn. Ihr Lächeln wirkte dabei so unschuldig, als wäre sie sich ihrer Wirkung auf andere vollkommen unbewusst. Sie hob ihr Glas und ließ es vernehmlich gegen mein Guinness klirren.
Sláinte!
Oh
Sie
Sie sind Irin?, war das Geistvollste, was mir in diesem Moment einfiel.
Sie nahm einen tiefen Zug ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Ich fühlte mich ungefähr so wie ein Kaninchen, das vor den Scheinwerfern eines Autos erstarrte und gleichzeitig einen Stromschlag von 10.000 Volt erhielt. Das Grün ihrer Iris war plötzlich etwas dunkler geworden; es glich nun nicht mehr der Farbe irischer Wiesen, sondern eher der Oberfläche tiefer Lochán . Um überhaupt etwas zu tun, beeilte ich mich, ihrer Aufforderung nachzukommen und stürzte die Hälfte meines Biers hinunter. Wie durch ein Wunder verschluckte ich mich nicht.
Beinahe, sagte sie schließlich. Zu einem Viertel jedenfalls. Die Eltern meiner Mutter stammen aus Cork.
Na, dann sind wir ja fast so etwas wie Nachbarn, entgegnete ich. Meine Vorfahren kommen aus Kinsale.
Ich erhob erneut mein Pint. Auf die ferne Heimat. May the Irish hills caress you!
May her lakes and rivers bless you! Sie prostete mir zu. Allein die Art wie ihre Lippen den Rand des Glases umschmiegten, konnte einen Mann in den Wahnsinn treiben.
Als sie ihren Drink halb geleert hatte, legte sie den Kopf schief und bedachte mich mit einem rätselhaften Lächeln. Und was macht ein irischer Junge wie Sie allein am Heilig Abend in einer Kneipe? Den nötigen Mut antrinken, um daheim den anstehenden Trubel bei Frau und Kindern heil zu überstehen?
Ich schüttelte den Kopf. Keine Frau, keine Kinder. Um ein frisches Guinness zu genießen, ist jeder Tag so gut wie der andere. Warum also nicht auch heute?
Stumm schien sie den Wahrheitsgehalt meiner Worte abzuwägen. Das Grün ihrer Augen hatte nun die leuchtende Frische taufrischer Moosflechten angenommen. Ohne dass ich die Bewegung bemerkt hatte, hielt sie plötzlich wieder ihren Highball in der Hand, sie trank jedoch nicht. Stattdessen fuhr ihre Zunge spielerisch über den Rand. Wie hypnotisiert folgte mein Blick dem lasziven Kreisen. Die Temperatur im Raum war mit einem Mal um mindestens zehn Grad gestiegen.
Und
und Sie? Ich lockerte die Krawatte und öffnete auch den zweiten Knopf meines Hemdes. Warten Sie hier auf Ihre Freunde? Sie sehen aus, als wären Sie unterwegs zu einer
nun, zu einer sehr interessanten Weihnachtsparty.
Ihre rotbraunen Locken schienen beinahe Funken zu sprühen, als sie den Kopf schüttelte. Keine Freunde, keine Party. Ich bin neu in der Stadt, wissen Sie. Da hab ich mir nur schnell was übergeworfen und bin ein wenig um die Häuser gezogen. Weihnachten kann recht deprimierend sein, wenn man allein ist, finden Sie nicht?
Nur schnell was übergeworfen! Aber sicher doch! Mit einem Traumkörper wie dem ihren hätte sie zwar auch in abgerissenen Sackleinen für Aufsehen gesorgt, das Designer-Teil, das meine Unschuld vom Lande trug, hatte auf der 5th aber mindestens 3000 Dollar gekostet. So naiv, wie sie sich gab, war man in den 50ern des letzten Jahrhunderts gewesen. Für wie dumm hielt sie mich eigentlich? Es widersprach einfach allen Naturgesetzen, dass eine solche Frau unfreiwillig allein war. Diese offenbare Beleidigung meiner Intelligenz verschaffte mir wieder ein wenig mehr Selbstbewusstsein. Ich hatte zwar keine Ahnung, was hier gespielt wurde, doch warum sollte man eine derartige Chance leichtfertig ausschlagen? Ich würde einfach mitmachen. Die Regeln konnte mir meine atemberaubende Partnerin ja später noch erklären.
So allein sind Sie doch gar nicht, sagte ich. Erneut erhob ich mein Guinness. Ich heiße Darragh. Darragh OConnell.
Deirdre. Freut mich, dich kennen zu lernen, Darragh. Das Klirren unserer Gläser durchbrach beinahe frevelhaft die Stille. Wie das laute Lachen in einer Kirche.
Meine neue Freundin seufzte tief. Darragh und Deirdre in New York. Klingt das nicht irgendwie poetisch?
Ohne jede Vorwarnung schleuderte mich der Abend in einen irrwitzigen Zeitstrudel; ich bestellte bereits die dritte Runde ohne dass ich die geringste Ahnung hatte, was bislang überhaupt abgelaufen war. Wir alberten herum als wenn wir uns seit Kindertagen kennen würden. Erst als ich spürte, wie sich ihr Schenkel sanft gegen mein Bein schmiegte, begriff ich, dass das Spiel offensichtlich in die nächste Runde gegangen war. Ich überlegte noch, wie ich reagieren sollte, als Deirdre meine Hand ergriff und sie auf ihr entblößtes Bein legte. Wie von allein fuhren meine Finger über die warme glatte Haut weiter nach oben. Als sich Deirdre das Kleid übergeworfen hatte, musste sie wirklich in Eile gewesen sein, denn ich ertastete nicht den Hauch eines Dessous.
Deirdre schob sich mit ihrem Hocker noch näher an mich heran, so dass sie nun beinahe auf meinem Schoß saß. Eine Wolke aus Chanel hüllte mich ein, jetzt zusätzlich von einem betörenden Moschusduft durchmischt.
Konnte ich ihre Erregung etwa auch riechen?
Eine geradezu romantische Schicksalsfügung, findest du nicht, Darr?, schnurrte sie und steckte mir ihre Zunge tief in den Mund.
Auch wenn mich die Wendung des Spiels vollkommen überrumpelte, sah ich doch keinerlei Veranlassung für ein Time-Out. Ich biss leicht auf die mir dargereichte Frucht und erhielt ein aufregendes Aromagemisch aus Bourbon, Ingwer und Erdbeeren.
Ein vernehmliches Räuspern brachte mich augenblicklich ins Hier und Jetzt zurück.
Ähem, darfs sonst noch was sein? Connors Blick wanderte unstet zwischen mir und Deirdre hin und her. Verärgerung, Überraschung und Neid rangen darin um die Vorherrschaft. Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, antwortete ich geistreich: Ich ... äh
also
ich weiß nicht ... ich
Nein, vielen Dank, wir wollen zahlen, übernahm Deirdre meinen Part. Noch immer hielt sie mich mit den Armen fest umschlungen. Unsere Geschäftsbesprechung wird sicher noch sehr lange dauern, doch dafür brauchen wir einen Ort, der eindeutig mehr Privatsphäre bietet. Galant ließ sie sich von ihrem Hocker heruntergleiten. Na los, lass uns von hier verschwinden, flüsterte sie mir zu. Zur Bekräftigung erhielt ich einen recht herzhaften Biss ins Ohr. Nur mit Mühe unterdrückte ich einen Schrei.
Während ich dem verdutzten Barkeeper zwei Scheine über den Tresen reichte, stand meine Begleitung bereits wieder in Schwarz gehüllt am Ausgang und wedelte ungeduldig mit ihrem Hut.
Sorry, murmelte ich Connor zu. Und Frohe Weihnachten!
Ich erhielt keine Antwort. Das Dauergrinsen des Dicken war verschwunden; stattdessen schienen seine kleinen Äuglein die Größe von Untertassen angenommen zu haben. Selbst wenn der alte Santa höchstpersönlich zusammen mit Schlitten und zwölf Rentieren im Raven zu einem Kurzbesuch abgestiegen wäre, hätte Connor kaum dümmer aus der Wäsche schauen können. Ich winkte ihm ein letztes Mal ungelenk zu und eilte dann zur Tür.
Geschäftsbesprechung, kicherte ich kopfschüttelnd, als wir die Treppen hinauf zur Straße eilten. Das war echt witzig. Das mit der Privatsphäre hättest du dir aber verkneifen können.
Deirdre warf mir einen Blick über die Schulter zu. Warum? Ich hatte doch Recht, oder? Hast du gesehen, wie er mich angestarrt hat? Dem Fettsack lief ja förmlich der Geifer aus dem Mund.
Da war er nicht der Einzige, schoss es mir durch den Kopf. Ich schloss zu ihr auf und zog sie sanft an mich. Und was nun?
Sie nickte in Richtung eines verbeulten silbergrauen Toronados, der verkehrswidrig direkt vor dem Eingang abgestellt worden war. Steig ein!
Ich hatte kaum Platz genommen, als Deirdre Vollgas gab. Mit quietschenden Reifen schossen wir vom Bordstein und kurvten zurück zur Park Avenue. Sicherheitsgurte suchte ich vergeblich, und so hielt ich mich krampfhaft am Armaturenbrett fest. Auch wenn ich von der Umgebung kaum mehr als Lichtschlieren wahrnahm, erkannte ich doch, dass wir in südlicher Richtung unterwegs waren. Meine Chauffeurin hatte allem Anschein nach keine Angst, in eine Radarfalle zu tappen. Als wir den East River über die Manhattan Bridge überquerten, ließ sie den schweren V8 aufheulen, als säße uns der Leibhaftige im Nacken.
Hast du etwa vergessen, das Gas abzustellen?, witzelte ich schwach.
Deirdre schenkte mir nur ein süffisantes Lächeln.
Darf ich fragen, wohin die Reise geht?
Home, Sweet Home, sagte sie geheimnisvoll.
Wir fahren also zu dir?
Ihre Hand tätschelte leicht mein Bein. Sei nicht so neugierig, Darr. Ich habe eine besondere Überraschung für dich.
Für mich? Aber du konntest doch gar nicht wissen, dass wir uns heute begegnen würden.
Ihre Hand schob sich höher in meinen Schritt und begann mit leichten Kreisbewegungen.
Vielleicht nicht, vielleicht doch, kicherte sie. Das Leben ist voller Überraschungen.
Ich begann laut zu stöhnen. Ihre Hand, ihre Worte, das rasende Auto, all das erzeugte in mir ein Schwindel erregendes Chaos der Gefühle. Ein klarer Gedanke war plötzlich weiter entfernt als der nächste bewohnte Planet.
Aus Angst, sie beim Fahren abzulenken, verzichtete ich auf weitere Fragen. Ich wagte es aus demselben Grund auch nicht, ihre Hand von meiner Hose zu schieben. Vielleicht hatte das aber auch noch eine andere Ursache.
Wir fuhren kreuz und quer durch Brooklyn, bis wir schließlich vor einem schäbigen Plattenbau anhielten. Wie ein schmutziger Grabstein ragte das Haus in den Nachthimmel. Es fiel mir sofort auf, dass nur in wenigen Etagen Licht brannte; mehrere der Fensterreihen waren sogar mit Sperrholz verbarrikadiert worden. Vor Hurrikan Katrina hatte sich hier aber bestimmt niemand schützen wollen.
Als Deirdre meinen skeptischen Blick bemerkte, lachte sie laut auf. Ja, ich weiß, sagte sie. Es ist nicht gerade das Hilton, aber wie gesagt, ich bin neu in der Stadt. Hast du mal versucht, in New York eine Wohnung zu finden, die gleichzeitig schön und bezahlbar ist? Ich studiere schon seit Wochen die Anzeigen, aber nada! Und außerdem: Beurteile ein Buch nie nach seinem Umschlag. Ich habe es mir in meiner Höhle recht schnuckelig gemacht. Du wirst schon sehen.
Als wir ausstiegen, schaute ich mich verstohlen nach allen Seiten um. Deirdres Wohnung lag inmitten einer Ansammlung von geisterhaft beleuchteten Bauruinen und Schuttplätzen. Für einen richtigen Slum standen die Häuser allerdings nicht dicht genug, auch fehlten marodierende Street-Gangs und die obligatorisch brennenden Ölfässer. Um ihren verbeulten Toronado machte ich mir aber dennoch Sorgen.
Worauf wartest du? Komm! Sie nahm mich bei der Hand und gemeinsam liefen wir über einen zersplitterten von Unkraut überwucherten Plattenweg zum Eingang des Hauses. Da Deirdre ihren Hut im Auto gelassen hatte, wehten ihre feurigen Kastanienlocken aufreizend im Wind. Zwischen den Aufschlägen des offenen Mantels glänzte das Rot ihres Kleides wie eine frische Wunde.
Woher hat Aschenputtel nur dieses Kleid? Die Frage war auf einmal in meinem Kopf. Als wir auf das dunkle Haus zuliefen, fühlte ich mich in eine Szene aus Cinderella versetzt. Etwas stimmte hier nicht. War Deirdre vielleicht deshalb so in Eile, weil die Fee Punkt Mitternacht alles wieder zurückverwandelte? Nun, zumindest bei dem Beförderungsmittel hätte sie sich ruhig ein wenig mehr anstrengen können.
Das Klingelbrett der Anlage war ein Wust aus zerkratzten und überklebten Namen, zusätzlich war es durch ein wirres Graffiti-Tag verziert worden. Zu meiner Verwunderung sah ich, wie Deirdre einen der Knöpfe drückte, gleichzeitig schob sie aber die Eingangstür auf, deren Schloss offenbar schon vor Jahrzehnten den Geist aufgegeben hatte.
Du schellst?, fragte ich verwirrt. Wohnst du etwa doch nicht allein?
Deirdre zog mich einen düsteren Treppenflur hinauf, der sein schwaches Licht nur durch die Neon-Graffitis an den Wänden zu beziehen schien.
Ach das? Meine geheimnisvolle Führerin kicherte. Das war nur für Tinkerbell.
Tinkerbell?
Meine Katze. Sie ist schon recht alt und hört nicht mehr so gut. Es ist eine Art Vorwarnung. Wenn ich schelle, weiß sie, dass ich komme. Als ich es einmal vergaß, habe ich ihr einen derartigen Schreck eingejagt, dass sie sich eine Woche lang hinter dem Sofa verkroch.
Ihre Wohnung lag im dritten Stock. In einem engen Korridor mussten wir uns zuerst einen Weg durch einen Wust aus leeren Cola-Dosen und Pizza- Kartons bahnen, bis wir die Tür erreichten. Zwei tiefe Risse liefen diagonal über die Außenseite. Es sah aus, als hätte Godzilla höchstpersönlich um Einlass gebeten. Von einem Namensschild fehlte jede Spur.
Ein Briefträger hat hier wohl seine liebe Not, bemerkte ich.
Deirdre zuckte leicht mit den Schultern während sie die Tür aufschloss. Keine Ahnung. Ich bekomme kaum Post.
Erst jetzt fiel mir auf, dass sie mir bislang nichts davon erzählt hatte, was sie beruflich machte.
Tinky! Tinkerbell!, rief sie ins Dunkel. Mami ist zu Hause!
Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend folgte ich ihr.
Eine nackte Glühbirne flammte vor mir auf. Wir durchschritten einen schmalen Flur, von dem links und rechts mehrere Zimmer abgingen. Die Tapeten an den Wänden sahen aus als wären sie in der Amtszeit von Roosevelt das letzte Mal gestrichen worden.
Deirdre öffnete eine der Türen und spähte in den Raum. Tinky? Wo hast du dich denn nur versteckt?
Ein Schatten tauchte hinter mir auf. Ich wollte mich gerade umdrehen, als ein gleißender Schmerz in meinem Kopf explodierte. Dann wurde alles schwarz.
Tinkerbell hatte mich gefunden ...
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