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Leseprobe 2
Das verglichen mit anderen Krankenhäusern der Stadt nicht besonders große Circulum Hospital ist für Nuála und ihre Kollegen zum Stammkrankenhaus geworden. Hier verstehen sie sich am besten mit dem Personal und werden selbst im größten Stress stets freundlich empfangen. Darum nutzen sie auch jede sich bietende Gelegenheit, bei einer schnellen Tasse Kaffee mit den Schwestern, Pflegern und Ärzten zu plaudern, wenn die Arbeit es erlaubt.
Bis Dienstschluss fehlen Declan und Nuála nur noch knapp zwanzig Minuten, nachdem sie ihren Patienten an einen übermüdet aussehenden Assistenzarzt übergeben haben. Sie entschließen sich, diese Zeit im kleinen Aufenthaltsraum der Notaufnahme zu verbringen, denn üblicherweise steht dort um diese Zeit immer eine große Kanne frisch gebrühter Kaffee bereit.
Die beiden haben es sich kaum auf dem verschlissenen Ledersofa neben der Tür bequem gemacht, als Doktor Sondra McMasters hereinkommt und sich stöhnend auf den nächstbesten Stuhl fallen lässt. Die blonde Frau mit den überaus üppigen Formen ist die Leiterin der Notaufnahme, was ihr ein Uneingeweihter allerdings nur schwerlich abnehmen würde. Für einen so verantwortungsvollen Posten sieht sie eigentlich Lichtjahre zu jung aus. Doch Declan und Nuála wissen nur zu genau, wie sehr dieser Schein trügt.
Noch Kaffee da?, erkundigt sich die Ärztin und reibt sich die Augen.
Prompt springt Declan auf, gießt eine Tasse ein und bringt sie ihr.
Nuála beobachtet es mit einem wissenden Schmunzeln. Es ist ein offenes Geheimnis, dass ihr Kollege schon seit Langem ein Auge auf die hübsche Schottin geworfen hat. Viel Arbeit?, erkundigt sie sich.
Sondra nickt mit einem wenig begeisterten Lächeln. Ja. Heute Nacht besonders ... dank eurer Bande.
Keine Sorge, wir haben ja gleich Dienstschluss, versucht Declan sie aufzumuntern.
Toll, erwidert Sondra. Streu mir auch noch Salz in die Wunde. Ich komme hier vor Mittag nämlich nicht raus. Allerdings grinst sie dabei.
Die Tür fliegt auf und Sean Simpson poltert herein. Kaffee, ruft er mit einer Verzweiflung, mit der gewöhnlich nur ein Verdurstender um Wasser fleht.
Sondras Blick wandert über Declan, Sean und Nuála. Sie kennt inzwischen die einzelnen Gespanne auf den Rettungswagen recht gut. Da fehlt doch noch einer, stellt sie fest.
Der putzt den Dreck aus dem Auto, berichtet Sean und schlürft hingebungsvoll das starke Gebräu, das in seiner Tasse dampft.
Freiwillig?, wundert sich Sondra. Dann spürt sie das fast peinliche Unbehagen der beiden Männer und beschließt, das Thema ruhen zu lassen.
Doch ehe sie irgendetwas anderes sagen kann, fliegt die Tür erneut auf und eine blasse, verstörte Schwester kommt herein.
Da draußen dreht einer durch, verkündet sie ziemlich hilflos. Er bedroht die Leute mit einem riesigen Messer.
Synchron springen alle im Raum auf und eilen nach draußen.
Schon von weitem hören sie Tumult, und als sie um die Gangecke biegen, sehen sie sofort den Grund für die Aufregung. Ein ziemlich verwahrloster Kerl mit strähnigem, gelb gefärbtem Haar und schäbiger Kleidung steht mitten in der Notaufnahme und schwingt ein erschreckend langes Messer. Fast wie festgeklebt hockt auf seiner Schulter eine gefleckte Ratte.
Zwischen den wie angewurzelt dastehenden oder kopflos umherlaufenden Leuten hindurch sieht Nuála Cedric hereinkommen. In seinem Gesicht bemerkt sie einen finsteren, lauernden Ausdruck, den sie noch nie an ihm gesehen hat. So, wie ich so einiges an ihm offenbar nicht kenne, fügt sie in Gedanken hinzu.
Dann richtet sich ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann mit dem Messer. Jedes Mal, wenn sich ihm jemand zu nähern versucht, stößt er wütend mit der Waffe vor. Dabei gibt er keinen Laut von sich, obwohl sein Gesicht vor Wut fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt ist, und das macht die Situation auf seltsame Weise noch dramatischer.
Der junge Assistenzarzt, bei dem Declan und sie Tom gelassen haben, nähert sich dem Gelbhaarigen plötzlich mit vorsichtigen, langsamen Bewegungen. In dem Durcheinander kann Nuála nicht hören, was er sagt, doch seine ausgestreckte Hand lässt vermuten, dass er versucht, den Mann zu überreden, sein Messer abzugeben.
Er erreicht genau das Gegenteil. Völlig unerwartet, und noch immer ohne einen einzigen Laut, stürzt der Mann vorwärts. Die gefährliche Spitze des Messers rast direkt auf den Bauch des Arztes zu.
Viel zu überrascht und erschrocken, um auszuweichen, verharrt der junge Mann, wo er gerade ist, und starrt seinem Angreifer fassungslos entgegen.
Aber plötzlich steht wie hingezaubert Cedric zwischen dem Messer und dem Arzt.
Mit einem leisen Aufschrei sieht Nuála zu, wie die blitzende Klinge knapp unter den Rippen in Cedrics Seite fährt.
Dann geht alles rasend schnell. Sie sieht einige huschende Bewegungen, plötzlich liegt der Gelbhaarige am Boden, die Ratte flüchtet panisch hinter einen Mülleimer, und das Messer ist in Cedrics Hand. Gleichzeitig stürmt ein gutes Dutzend Polizisten herein, die Menschen flüchten hektisch in alle Richtungen davon, und für einige Sekunden herrscht in der Notaufnahme Chaos.
Nuála beobachtet noch, wie plötzlich Sondra neben Cedric erscheint, ihn beim Arm nimmt und fortzieht. Dann raubt ihr der allgemeine Tumult die Sicht. Sie drückt sich so flach wie möglich an die Wand, als einige der Polizisten, die versuchen, den tobenden Messerstecher zu bändigen, bedrohlich in ihre Richtung tendieren. Als sie wieder aufschaut, sind Sondra und Cedric verschwunden.
Mit geradezu unheimlicher Klarheit sieht sie das Messer achtlos zwischen den Füßen der Leute am Boden liegen.
Suchend sieht sich Nuála um. In einem kleinen Lagerraum neben dem Eingang entdeckt sie schließlich Bewegungen durch den Spalt der nur angelehnten Tür. Voller Sorge um ihren Partner schiebt sie sich durch das herrschende Durcheinander auf die Tür zu und drückt sie behutsam auf.
Im flackernden Licht einer Neonröhre unter der Decke sieht sie Sondra und Cedric. Ihr Partner hat Hemd und T-Shirt auf der linken Seite hochgezogen und die Ärztin untersucht ihn. Allerdings ziemlich unbekümmert, wie es Nuála vorkommt.
Nehmen Sie zwei Aspirin und rufen Sie mich morgen an, scherzt sie sorglos.
Darís, emhur tjonáturit, erwidert Cedric, offenbar überaus guter Laune.
Nur einen Herzschlag lang hat Nuála Zeit, sich über die fremdartigen, dunkel klingenden Worte zu wundern, dann entdeckt Sondra sie. Der Schreck lässt die Ärztin sichtlich erbleichen.
Cedric bemerkt ihre plötzliche Bestürzung und fährt herum.
Nur für den Bruchteil einer Sekunde begegnet Nuála seinen grünen und silbernen Augen, dann gleitet ihr Blick hinunter zu seiner noch immer entblößten Seite. Fassungslos starrt sie darauf. An jener Stelle, wo eigentlich eine tiefe, lebensgefährliche Wunde klaffen sollte, sieht sie stattdessen nur eine farblos weiße Furche in seinem Fleisch, die sich von seinen Rippen bis fast auf den Gürtel herunterzieht. Noch während sie darauf starrt, beginnt die Stelle, gräulich zu verschorfen.
Sofort, doch ohne jede Hast, zieht Cedric Hemd und T-Shirt herunter. Er sucht Nuálas Blick. Sieht das Entsetzen in ihrem Gesicht, die Furcht in ihren Augen. Mit einem erstickten Aufschrei taumelt sie rückwärts und läuft davon.
Cedric eilt ihr sofort nach, doch sie ist in dem sich langsam auflösenden Durcheinander in der Notaufnahme untergetaucht, ehe er sie erreichen kann. Es dauert einen Moment, bis er sie schließlich zwischen Declan und Sean entdeckt. Nuála!
Als er auf sie zukommt, weicht sie hinter ihre beiden Kollegen zurück.
In diesem Moment ist es ihm gleichgültig, welchen Eindruck die Szene auf die beiden Männer macht. Entschlossen hält er weiter auf die junge Frau zu. Nuála.
Sean Simpson tritt ihm in den Weg. Lass sie, fordert er, mit einem deutlich drohenden Unterton in der Stimme.
Nuála umklammert Declans Arm. Fahr mich zur Wache, bitte, sagt sie leise, ohne Cedric aus den Augen zu lassen.
Wortlos legt Declan einen Arm um ihre Schultern und geht mit ihr Richtung Ausgang.
Wieder ist es Sean, der Cedric den Weg verstellt, als der den beiden folgen will. Wir werden noch eine Weile hier warten, erklärt er mit Nachdruck.
Der Blick, mit dem Cedric ihn regelrecht durchbohrt, wütend und unglaublich kalt zugleich, lässt pure Todesangst in Sean aufsteigen.
Doch dann, unvermittelt, sinkt Cedrics vorgerecktes Kinn zurück, die steinernen Gesichtszüge werden weich, und alles Bedrohliche an ihm ist verschwunden. Er nickt langsam. In Ordnung.
Als er sich abwendet und zum Aufenthaltsraum geht, kann sich Sean ein erleichtertes Aufseufzen nicht verkneifen. Er weiß nicht, was er da eben für einen kurzen Moment in den Augen seines Kollegen hat aufblitzen sehen, aber noch immer spürt er die Furcht, die dieses Etwas ausgelöst hat.

Nuála hört, wie Declans Wagen davonfährt, als sie gerade die Tür ihres Zimmers von innen abschließt. Zitternd lässt sie sich auf ihr Bett fallen und versucht, sich zu entspannen. Doch all ihre Bemühungen, sich zu beruhigen, misslingen kläglich. Jetzt, wo sie allein ist, kann sie ihr Herz bis in die Kehle hinauf pochen hören und das Blut rauscht unnatürlich laut in ihren Ohren.
Auf der gesamten Fahrt vom Circulum zur Wache und anschließend von dort zu ihr nach Hause, hat sie Declans besorgte Fragen nur mit beharrlichem Schweigen beantwortet.
Was hätte sie ihm auch sagen sollen, wo sie sich selbst nicht sicher ist, was passiert ist, geschweige denn, was sie gesehen hat.
Hätte sie ihm erzählen sollen, dass sie an Cedric eine Wunde gesehen hat, die lebensgefährlich, vielleicht sogar tödlich hätte sein müssen, die sich aber einfach vor ihren Augen geschlossen hat, ohne auch nur eine winzige Spur von Blut? Und hätte sie auch noch erwähnen sollen, dass sich Cedric und Sondra benommen haben, als sei so etwas völlig selbstverständlich?
Nuála schlüpft unter die Bettdecke und vergräbt ihr Gesicht im Kissen. Die vergangene Nacht ist anstrengend gewesen, doch es will ihr einfach nicht gelingen einzuschlafen.
Eine seltsame, kaum greifbare Furcht lässt ihren Puls viel schneller gehen, und in ihrem Verstand bohrt die Frage, was sie wirklich gesehen hat. Ein Wunder? Irgendeine Form von Zauberei? Oder am Ende nur eine Illusion, die ihre überreizten Nerven ihr vorgegaukelt haben?
Dieser letzten Möglichkeit möchte sie am liebsten zustimmen, leider ist es genau diese, von der ihr Gefühl ihr sagt, dass sie am allerwenigsten zutrifft.
Der Tote im Phoenix Park fällt ihr ein. Wie es scheint, hat Cedric viele Geheimnisse.
Erschrocken zuckt sie zusammen, als sie ein Motorrad vor dem Haus vorfahren hört. Mit angehaltenem Atem verfolgt sie, wie der Motor abgestellt wird und keinen Atemzug später läutet es an der Haustür.
Sie will aufspringen und an die Treppe laufen, und Mrs Harris, ihrer Vermieterin, zurufen, ihn nicht hereinzulassen, aber sie bleibt wie gelähmt liegen.
Dann vernimmt sie Stimmen unten im Flur, kann aber nicht verstehen, was sie sagen. Eine kurze Weile später klopft es leise an ihrer Tür. Das Geräusch lässt sie unter ihrer Decke erstarren.
Nuála? Seine Stimme klingt dunkel, warm und sanft, eigentlich wie immer. Nuála, hörst du mich?
Zuerst will sie einfach nur still bleiben, doch dann überlegt sie es sich anders. Geh weg!
Es überrascht sie selbst, wie ängstlich ihre Stimme klingt.
Ich glaube, ich muss dir etwas erklären, sagt er dumpf.
Nein, widerspricht sie und diesmal klingt ihre Stimme schon fester. Verschwinde!
Das kann ich nicht, antwortet er schlicht. Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: Ich denke, das weißt du auch.
Sie hüllt sich in Schweigen.
Er ebenso.
Die Minuten verstreichen.
Nuála liegt in ihrem Bett und wagt kaum zu atmen.
Ich werde warten, dringt Cedrics Stimme durch die Tür. Und ich habe eine Menge Zeit.
Nuála lauscht seinen Worten nach, doch vergeblich sucht sie darin die Drohung, die sie erwartet hat. Viel mehr hört sie darin einen winzigen Funken seines typischen hintergründigen Humors, den sie so gern hat.
Wie zur Bestätigung ertönt ein schleifendes Geräusch, als ob er sich am Türrahmen entlang zu Boden gleiten lässt. Beinahe kann sie ihn vor sich sehen, wie er vor ihrer Tür auf dem gemusterten Teppich sitzt.
Du hast keinen Grund, vor mir Angst zu haben, hört sie Cedrics Stimme nach einer Weile. Der Klang seiner Worte jagt ihr einen warmen Schauer über, ähnlich dem, den sie in der Nacht im Phoenix Park gespürt hat.
Hartnäckig hüllt sie sich in Schweigen, doch in ihrem Innern taucht tatsächlich nach einer Weile die Frage auf, ob das, was sie im Circulum gesehen hat, wirklich ein Grund ist, dass sie sich vor Cedric fürchtet. Nur, weil sie sich das Geschehene nicht erklären kann, muss es nicht automatisch etwas Schlechtes, Böses sein. Gespannt lauscht sie auf den Flur hinaus.
Nuála? Es scheint ihr fast, als könne er spüren, was in ihr vorgeht.
Du bist noch da?
Natürlich.
Wieder löst seine Stimme diesen wohlig warmen Schauer aus, der irgendwie ihre Angst lindert.
Sehr viel später hört Nuála Schritte die Treppe hinaufkommen, dann klappert Geschirr und sie hört Mrs Harris murmeln. Sie beginnt zu ahnen, was vor ihrer Tür geschieht.
Schon bei seinem ersten Besuch im Haus hat Cedric das Herz ihrer Vermieterin im Sturm erobert, und so fällt es Nuála nicht schwer, sich vorzustellen, wie die stets freundliche, ältere Dame ihn vor der Tür mit Tee und Keksen versorgt. Sie kann sich dieses Bild regelrecht ausmalen.
Und darin hat Cedric nichts Monströses oder Bedrohliches an sich, nicht einmal etwas Unnatürliches.
Eingekuschelt in die geheimnisvolle Wärme, die Cedrics Stimme ausgelöst hat, fallen ihr die vielen kleinen Erlebnisse ein, die Cedric und sie verbinden, seit sie seit fast einem Jahr zusammen Dublins nächtliche Straßen durchstreifen. Sie erinnert sich an Lustiges, an Trauriges, an peinliche, tragische und glückliche Momente.
Nein, egal wer, oder was , er ist, sie kann nicht länger glauben, dass er eine Gefahr für sie ist.
Cedric?
Ja?
Wer bist du?
Sie hört ihn leise auflachen. Muss ich das einer Tür erzählen?
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