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Die Magie des Augenblicks
Magische Wolfsbegegnungen – ich erlebe sie immer wieder in Yellowstone. Die schönsten Augenblicke sind für mich immer noch die, in denen ich ganz alleine mit dem Wolf bin. Meist bin ich überwältigt und den Tränen nahe. Danke Wolf, ist dann alles, was ich sagen beziehungsweise denken kann. Einige der magischsten Momente erzähle ich in diesem Buch.
»Haben Sie keine Angst vor den Wölfen?«
Diese Frage wird mir immer wieder gestellt.
»Nein. Ich habe keine Angst vor Wölfen.«
»Auch nicht, wenn die Hunger haben? Oder wenn sie Junge bei sich haben?«
»Auch dann nicht.«
Ich hatte noch nie Angst vor Wölfen. Ich weiß, dass die Wölfe viel mehr Angst vor mir haben. Wenn ein Wolf in meine Nähe kommt, empfinde ich immer ein ehrfürchtiges Staunen. Und auch eine leise Trauer, weil ich weiß, dass es nicht gut ist für ihn, wenn er keine Angst vor mir hat.
Seit vielen Jahren halte ich mich in Wildnisgebieten auf. Einen Winter lang lebte ich an der kanadischen Grenze in einer Blockhütte mitten im Wolfsterritorium. Fast jede Nacht hörte ich die Wölfe heulen und fand am Morgen danach ihre Spuren im Schnee in der Nähe meiner Cabin. Wenn das Nordlicht besonders schön war, schlief ich in meinem warmen Schlafsack im Freien, begleitet vom nahen Gesang der Wölfe.
Angst habe ich dabei nie gehabt. Im Gegenteil, sosehr ich mir auch wünschte, einen Wolf zu sehen, ich bekam den scheuen Beutegreifer kaum zu Gesicht. Nur ganz selten einmal, in hellen Vollmondnächten, sah ich einige dunkle Schatten über den zugefrorenen See huschen.
Eines Morgens fand ich auf einer Schneeschuhwanderung einen frisch getöteten Hirsch. Er war bereits aufgerissen. Die Innereien dampften noch warm in der Kälte. Im Schnee sah ich viele Wolfsspuren. Ich musste die Wölfe also aufgescheucht haben. Ich war allein, und da waren mindestens fünf große, hungrige Wölfe, die mich mit Leichtigkeit hätten töten können, wenn sie es gewollt hätten. Warum waren sie also fortgelaufen, statt mich anzugreifen und ihre Beute zu verteidigen? Einen Bären hätte ich nicht so leicht verjagen können.
Können Wölfe eine echte Bedrohung für Menschen sein? Haben sie jemals Menschen angegriffen? Es ist eine uralte Frage, beladen mit Aberglauben und Ängsten.
Unzählige Fachleute beteuern immer wieder leidenschaftlich, dass die Raubtiere dem Menschen nicht gefährlich werden können. Selbst in entlegensten Gebieten, in denen Wölfe nur sehr wenigen Menschen begegnen, scheinen sie instinktiv zu wissen, dass man die Zweibeiner besser in Ruhe lässt. Dass sie übermächtige Kreaturen sind, die auf sichere Distanz gemieden oder toleriert werden müssen.
Dennoch gibt es immer wieder Vorfälle, bei denen wilde Wölfe Menschen angreifen. Fast immer sind sie vorher gefüttert worden. Am 19. Mai 2009 wurde in der Nähe des Old Faithful Geysirs ein einjähriger Wolfsrüde von Parkbeamten getötet. Das Tier hatte mehrmals Menschen auf Fahrrädern und Motorrädern gejagt und wurde als »Gefahr« eingestuft. Der Wolf war ein neugieriges Jungtier aus der Gibbon-Meadow-Wolfsfamilie. Zuerst näherte er sich im März Touristen im Midway Geysir Basin. Dann tauchte er am Old Faithful, einem der berühmtesten Geysire des Parks, auf. Er suchte immer wieder die Nähe von Menschen oder Autos. Bei einem normalerweise sehr scheuen Tier ist das ein Zeichen dafür, dass es gefüttert worden ist. Park Ranger versuchten vergeblich, den Wolf mit Feuerwerkskörpern und Gummikugeln fortzujagen. Er kehrte immer wieder zurück. Dann entschloss sich die Parkverwaltung, ihn zu töten.
Der Aufschrei in der Wolfsgemeinde war groß. Drohbriefe und Hassmails trafen ein. Aber Schuld am Tod des Wolfes waren nicht die Ranger. Schuld waren die, die ihn gefüttert hatten. Die ihn zu nahe an sich herankommen ließen, ohne ihn fortzujagen. Gerade Jungtiere lernen sehr schnell, wenn sie für ihre Forschheit auch noch belohnt werden.
Es hätte schlimmer ausgehen können. Der Wolf hätte einen Menschen vom Fahrrad reißen können, selbst ohne ihn groß zu verletzen. Ich sah die Schlagzeilen in den Sensationsblättern schon vor mir: »Yellowstone-Wolf frisst Touristen«. Das hätte das Aus für das ganze Wolfsprogramm bedeuten können.
Jetzt wollte ich es genau wissen. Wie sollte ich mich verhalten, wenn ich einem Wolf begegne, der auf mich zukommt? Ich traf Rick in Little America. Dieses Tal liegt zwischen den beiden Hochplateaus Buffalo Plateau und Specimen Ridge. Es wird so genannt, weil einst ein kleiner See dort lag, der die Umrisse von Amerika hatte. Heute ist der See längst der anhaltenden Dürre zum Opfer gefallen. Little America ist ein beliebtes Wolfsrevier, das oft von mehreren Wolfsgruppen frequentiert wird. Rick saß auf seinem kleinen Schemel und scannte mit seinem Spektiv das Gelände. Es war einer der wenigen Momente, an denen er nicht von Menschen umringt war. Nur meine Freunde Carol und Mark aus Colorado, die wieder mal ein paar Tage in ihrem Haus in Silver Gate verbrachten, waren noch bei ihm. Rick McIntyre war ein wenig wie die Wölfe – er hatte immer neue überraschende Seiten. Was mich am meisten verblüffte, war sein ungeheures Wissen über alles, was in der Welt vor sich ging. Da verbrachte dieser Mann den ganzen Tag damit, auf der Suche nach Wölfen durch den Nationalpark zu fahren. Abends in seinem kleinen Blockhaus übertrug er seine Aufzeichnungen in den Computer. Wann um alles in der Welt hatte er noch Zeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen?
Jetzt stand er vor mir und überraschte mich mit Fragen zu Sophie Scholl und der Weißen Rose. Er hatte gerade etwas über die Widerstandsbewegung im Dritten Reich gelesen und wollte nun mehr darüber wissen. Ich fürchtete diese Momente, die oft so überraschend kamen, dass ich bei seinen Bildungsfragen nach Weimarer Verfassung, Mittelalter, Luther oder Wiedervereinigung meist passen musste. Ich kam nicht hinter Ricks Geheimnis. Entweder las er noch die ganze Nacht, oder er schaute sich Dokumentationen an. Auf jeden Fall war er stets über alles informiert.
Bevor er mich noch weiteren Geschichtstests unterziehen konnte, stellte ich meine Frage nach den Wölfen:
»In den Hinweisen des Park Service steht, dass wir uns keinen Wölfen nähern dürfen. Auch ist es verboten, Tiere zu verscheuchen. Was aber, wenn ich nun irgendwo stehe, und ein Wolf kommt auf mich zu, eventuell mit eindeutiger Bettelabsicht?«
»Wenn ein Wolf sich dir neugierig nähert oder eindeutig versucht zu betteln, dann kannst du ihn anschreien und in die Hände klatschen. Hau ab, Wolf!«, demonstrierte Rick und fügte mit einem schelmischen Grinsen hinzu:
»Am besten sprichst du Deutsch mit ihm. Eure harte Aussprache wird ihn gleich verschrecken.«
So viel zum Humor des obersten Wolfsbiologen.
Ich hatte mehrere Male nahe Begegnungen mit Wölfen in Yellowstone. Und jeder dieser Momente war reine Magie.
An einem frühen Frühlingsmorgen, als die Straße von Mammoth Hot Springs zum Old Faithful zum ersten Mal schneefrei und für den Verkehr freigegeben worden war, fuhr ich zum Norris Geysir Becken. Ich liebe die Zeit, in der ich noch ganz allein bin und meinen Gedanken nachhängen kann. Norris gehört zu meinen Lieblingsgeysiren. Hier fühle ich mich ganz dicht am »Bauch« von Mutter Erde. Die Erdkruste ist in diesem Gebiet nur fünf Kilometer dick (normal sind etwa fünfzig Kilometer). Yellowstone ist ein schlafender Supervulkan. Das Land hat eine ganz besondere Kraft, weil in ihm die unbegrenzten Möglichkeiten der Natur lebendig sind. Norris ist der heißeste Ort im Park – aus Feuer und Eis ge¬formt. Manchmal geschehen hier Dinge sehr langsam – gemessen an geologischen Zeiten – und manchmal blitzschnell. Ein Ort, an dem die Schöpfung kein Ende nimmt.
Ich saß auf einem Baumstamm inmitten von gluckernden, brodelnden, zischenden heißen Quellen. Zwischen kalten Schneefeldern atmeten Flüsse und Bäche riesige Dampfwolken aus. Warme Ströme, die in einer arktischen Umgebung irgendwie deplaciert wirkten. Die Sonne tat sich schwer, einen Weg zu den von Mineralien gefärbten roten und blauen Wasserströmen zu finden. In der Ferne hörte ich ein helles Yippen, Quietschen, Fiepen, Kreischen. Es schwang sich hoch und verwandelte sich in ein helles Lachen, das Trällern einer Operndiva. Kojoten! Meine wilden Freunde. Sie sangen ihr Morgenlied. Ihr Gebet an die Sonne.
Hinter mir – ganz nah – die Antwort. Tiefer. Ruhiger. Länger. Aus kräftiger Kehle. In Zeitlupe drehte ich mich um. Ein hellgrauer Wolf stand nur etwa fünf Meter entfernt und schaute mich an. Am aufgestellten Kranz seiner Nackenhaare konnte ich erkennen, dass es ein noch junges Tier war. Die Ohren waren nach vorn gerichtet. Der Schwanz auf halber Höhe zeigte Unsicherheit. Ich hatte die Kamera direkt neben mir liegen, verzichtete aber darauf, nach ihr zu greifen. Das hätte den Zauber zerstört. Ich hielt den Atem an. Mein Herzschlag dröhnte laut in meinen Ohren. Wir schauten uns an.
Gelbe Augen tauchten in blaue Augen ein. Sekunden. Minuten. Ein Stück Ewigkeit. Dann flog neben mir ein Vogel auf und erschreckte mich. Der Wolf machte einen Satz nach hinten, drehte um und rannte davon. Noch lange saß ich da und versuchte, das Unbegreifliche zu begreifen.
Ich hatte den Wolf nicht fortgejagt – und auch nicht deutsch mit ihm gesprochen. Um nichts in der Welt hätte ich den Wimpernschlag der Ewigkeit durch mein Verhalten zerstören wollen. Ich war nur dankbar, diesen Augenblick erleben zu dürfen.
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