Es scheint ein unbeschwerter Sommer zu werden. Bis zu dem Tag, als die Schwestern Kate und Frankie beim Schwimmen im Meer vor Hongkong eine Leiche entdecken. Vermutlich wurde die Frau bei einem Anschlag chinesischer Rotgardisten getötet. Solche Übergriffe auf die britische Kolonie gibt es viele im Jahr 1967. Doch während die meisten Menschen Angst vor einer chinesischen Invasion haben, begegnen Kate und Frankie den Ereignissen mit Neugier und Abenteuerlust. Sie sind „Weiße Geister“, wie ihre chinesische Amah sie nennt. Und so heißt auch der erste Roman der Amerikanerin Alice Greenway.
Nein, Angst haben die Mädchen zumeist nicht. Der Vater fotografiert für eine große amerikanische Zeitung den Krieg in Vietnam. Er scheint unverwundbar. Am liebsten wären sie bei ihm, um zuzuschauen, mit ihm und den Soldaten durch den Dschungel zu streifen, den Vietkong aufzuspüren. Tod und Terror sind zu unwirklich, um von ihnen wahrgenommen zu werden. Die Mutter ignoriert die Schrecken des nahen Infernos und der noch näheren chinesischen Bedrohung. Sie malt bunte unschuldige Bilder, nur die Schönheit hat Platz darauf. Es ist ein perfekter Verdrängungsmechanismus, der weder die Angst um ihren Mann laut werden lässt, noch um ihre ältere Tochter Frankie. Denn Frankie ist schwierig.
Auch Kate, aus deren Perspektive Greenway schreibt, sieht mit einem unguten Gefühl, wie ihre Schwester immer eigenwilliger wird. Und fordernder: Sie muss im Mittelpunkt stehen und lässt nichts aus, um Aufmerksamkeit zu erheischen. Und will doch vor allem Liebe. So sehr, dass sie weder Kate noch ihrer Mutter die ihr doch eigentlich zugedachte Zuwendung – von wem auch immer – gönnt. Für Kate ist das egozentrische Verhalten Frankies, das seit dem Tag, an dem die Leiche im Meer auftauchte, immer extremer wird, Anlass, sich mehr und mehr in sich zurückzuziehen. Die „weißen Geister“ werden irdisch.
Greenway schuf mit ihrem Debüt selbst ein Gemälde, so bunt und traumhaft schön wie die Bilder der Mutter Kates und Frankies. Doch bei weitem nicht so unschuldig. In jedem Winkel ihrer exotischen Kulisse sind die Schatten des Vietnamkrieges, der chinesischen Kulturrevolution, vor allem aber auch der problembeladenen Entwicklung zweier heranwachsender Mädchen zu sehen, die ihre scheinbar heile Welt wie eine Seifenblase zerplatzen lassen.
Der jahrelang im Fernen Osten lebenden Autorin ist ein wunderbarer Roman gelungen: Ganz im Stil asiatischer Kunst – mit sparsamen Pinselstrichen und voller Anmut – schrieb sie eine lyrische, sinnliche und einfühlsame Geschichte um eine Jugend, die für beide Mädchen bitter endet. Eine Geschichte, die auch vergangene Schrecken in Erinnerung ruft, gegenwärtige assoziiert und vor zukünftigen warnt.
Von Frauke Kaberka
Literaturangaben:
GREENWAY, ALICE: Weiße Geister. Aus dem Amerikanischen von Uwe-Michael Gutzschhahn. marebuchverlag, Hamburg 2009. 220 S., 19,90 €.
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