John Banville: Die See (Roman) |
John Banville: Die See |
Inhaltsangabe:Max Morden, der Ich-Erzähler, sitzt mit seiner Frau Anna im Sprechzimmer von Dr. Todd, der in der Krankenakte nach dem Befund blättert. Die blassrosa Pappe des Ordners erinnert Max "an die gespannte Unruhe der ersten Schultage nach den Sommerferien, den Reiz der neuen Schulbücher und den verheißungsvollen Geruch nach Tinte und frisch gespitzten Bleistiften" und er wundert sich, "wie doch selbst noch im Augenblick der alleräußersten Konzentration unsere Gedanken streunen" (Seite 18). Als das Ehepaar dann vom Arzt erfährt, dass Anna unheilbar an Krebs erkrankt ist, muss es sich erst mit den neuen Gegebenheiten zurechtfinden. Anna findet die Situation "unangemessen". Als sie dann zu weinen anfängt und Max sie in den Arm nehmen will, weicht sie spröde zurück. "Herrgott nochmal, mach doch nicht so ein Theater!", fuhr sie mich an. "Ich sterbe schließlich bloß." (Seite 22)
Sie möchte nicht, dass jemand über ihre Krankheit informiert wird. Nicht einmal ihrer Tochter Claire sagen sie es. Die etwa Zwanzigjährige studiert im Ausland; ihr Verhältnis zu den Eltern ist nicht besonders herzlich.
Und nun war es vorbei, und etwas anderes hatte angefangen, für mich, nämlich das schwierige Geschäft des Weiterlebens als derjenige, der übrig geblieben war. (Seite 124)
Anna stammte aus einer wohlhabenden Familie. Mit ihrem Vater, dem ein Industrie-Unternehmen gehörte, wuchs sie in einer luxuriösen Stadtvilla in London auf. Sie war erst ein paar Monate mit Max verheiratet, als ihr Vater starb, von dem sie ein beträchtliches Vermögen erbte. Sie trug ein Kleidungsstück, das, glaube ich, sogar schon damals, in jenen prüderen Tagen, mit anschaulicher Freizügigkeit Bustier genannt wurde, im Grunde nichts weiter als ein trägerloser weißer Wollschlauch, der sehr eng war und sehr deutlich die unteren Rundungen ihrer schweren Brüste offenbarte. Dazu hatte sie ihre weiß gerandete Filmstarsonnenbrille auf und rauchte eine dicke Zigarette. Es erregte mich, ihr zuzusehen, wie sie einen tiefen Zug nahm und den schlaffen Mund einen Moment offen hängen ließ und zwischen diesen scharlachroten wächsern glänzenden Lippen reglos eine üppige Rauchwolke schwebte. Auch ihre Fingernägel waren in grellem Blutrot lackiert.(Seite 93)
Am Strand packten sie den Picknickkorb aus. Es gab Sandwiches, und Mr und Mrs Grace tranken reichlich Wein. Myles tobte zwischen den Farnbüschen herum; Rose lümmelte missgelaunt auf der Decke, und Chloe pulte an ihrem Ellenbogen Schorf von einer Schramme. Als sie damit aufhörte, bewarf sie Max mit Brotbrocken. Mrs Grace lag direkt vor ihm am Böschungshang, und er bildete sich ein, dass sie seinen Blick suchte. Sie wälzte sich herum und stellte ein Bein auf, sodass er unter ihren Rock sehen konnte bis hinauf zum Oberschenkel und dem Zwickel des Schlüpfers. Unvermittelt schlief sie ein, wobei sie schnarchte. Immer wieder kam sie anders zum Liegen, wodurch sich neue Einblicke auf ihre Unterwäsche eröffneten: "Wohin ich so gierig schaute und etwas sah, das nicht für mich bestimmt war, keinesfalls." (Seite 217) Und damit war ihr Status als "Göttin", wie er sie für sich nannte, mit einem Mal entzaubert. Sie war keine "dämonische Verführerin mehr, sondern bloß noch sie selbst, eine sterbliche Frau" (Seite 99f).
Doch, ich erinnere mich an einen Kuss, einen von so vielen, die ich vergessen habe. Ob dieser Kuss der erste war, den wir uns gaben, weiß ich nicht mehr. Küsse hatten ja damals so eine große Bedeutung, meistens setzten sie das ganze andere Pipapo in Gang – die lodernden Flammen, die Feuerwerksraketen, die emporschießenden Geysire, das ganze Zeug. Dieser Kuss fand statt – nein, wurde ausgetauscht – nein, vollzogen, das ist das Wort, wurde vollzogen in dem Wellblechkino [...]. (Seite 120)
Chloe, Myles und Max gingen schwimmen. Sie gaben es aber bald auf, denn eine "wellenlose, unaufhaltsame Flut" und die gespenstische Stille, die damit einherging, waren ihnen unheimlich. Rose lag am Strand auf ihrem Handtuch, und Chloe bemerkte maliziös: "Vielleicht spülen die Wellen sie weg." In der Nähe befand sich eine Holzbude, und Myles gelang es, das Vorhängeschloss abzumachen. Chloe kniete sich auf die an der Innenwand befestigte Holzbank; Myles und Max setzten sich daneben. Chloe sagte noch einmal: "Hoffentlich ersäuft sie", und ließ ihr schneidendes Kichern hören. Sie hatte sich über ihren Badeanzug eine Strickjacke umgehängt, die sie nun abschüttelte. Mit der raschen, brüsken Art, mit der sie dies tat, fühlte Max sich "regelrecht dazu aufgefordert", ihr, die neben ihm kniete, die Hand hinten auf den Oberschenkel zu legen. Sie reagierte nicht, und Max fuhr mit seiner Hand weiter aufwärts bis zu dem straffen Saum ihres Badeanzugs. Max hätte es vollkommen genügt, mit der Hand unter ihrem Hintern neben ihr sitzen zu bleiben, aber sie rutschte mit einer kleinen zuckenden Bewegung weiter zur Seite und öffnete ihren Schoß. Seine "erstaunten Fingerspitzen" berührten den Zwickel ihres Badeanzugs, der ihm glühend heiß vorkam. Dann klemmte sie die Schenkel wieder zusammen und seine Hand "saß in der Falle". Sie küsste ihn, und knotete die Schleife der Badeanzugträger auf. Mit einer ungeduldigen Gebärde führte sie seine Hand an die "kaum wahrnehmbare Rundung ihrer Brust". Myles saß mit geschlossenen Augen daneben an die Wand gelehnt. Chloe ergriff die Hand ihres Bruders, ohne damit aufzuhören, Max zu küssen, der mehr fühlen als hören konnte, wie ein "schwaches, wimmerndes Stöhnen in ihrer Kehle aufstieg". (Seite 200) Dann standen sie ganz ruhig auf und wateten in die See, und um sie herum das Wasser, glatt wie Öl, teilte sich kaum und beide beugten sich vor, genau in gleichen Augenblick, und schwammen langsam hinaus, und die zwei Köpfe wogten auf den weißlichen Wellen, immer weiter und weiter hinaus. (Seite 202) Rose und Max standen einfach da und sahen nur noch zwei fahle Punkte weit draußen, und dann war nur noch ein Punkt da. Danach war alles sehr schnell vorbei, ich meine, das, was wir davon sehen konnten. Ein Spritzen, ein wenig weißes Wasser, weißer als all das Wasser ringsum, dann nichts, die gleichgültige Welt, sie hatte sich geschlossen. (Seite 203) Wie vom Himmel gefallen kam ein junger Mann angerannt, der ins Meer sprang und hinausschwamm. Inzwischen lief Rose am Stand auf und ab. Der "Möchtegern-Lebensretter" kehrte nach einer Weile zurück: Da sei nichts mehr zu machen. Rose schluchzte auf, und da erst kam es Max in den Sinn, zum Haus der Graces zu laufen. Was habe ich empfunden? Am stärksten, glaube ich, wohl ein Gefühl von Ehrfurcht, nämlich Ehrfurcht vor mir selbst als einem, der zwei lebendige Geschöpfe gekannt hatte, die nun plötzlich verblüffenderweise tot waren. Aber habe ich denn geglaubt, dass sie tot waren? In meiner Vorstellung schwebten sie aufrecht, Arm in Arm, in einem endlos großen, strahlend hellen Raum und blickten starr und ernst mit ihren weit geöffneten Augen geradeaus in die unermesslichen Tiefen des Lichts. (Seite 204)
Max Morden ist nun also an den Ort zurückgekehrt, an dem er vor fünfzig Jahren Zeuge einer Tragödie war. Er quartiert sich in der Villa "Zu den Zedern" ein, in der es noch immer Gästezimmer gibt. Die Pension wird von Miss Vavasour geführt. (Das ist Rose, die frühere Gouvernante von Chloe und Myles.) Carlo und Constance Grace leben nicht mehr. Außer Max wohnt nur noch ein Gast im Haus, ein schrulliger älterer Colonel, der eigentlich seine Ruhe haben will und nur hin und wieder ein paar Worte mit seinem Mitbewohner spricht. Ich muss zur Zeit die Welt in kleinen, sorgfältig abgemessenen Dosen zu mir nehmen, das ist eine Art homöopathische Heilkur, der ich mich unterziehe, obwohl ich mir nicht sicher bin, was diese Kur genau kurieren soll. Vielleicht lerne ich, wieder unter den Lebenden zu leben. Es zu üben, meine ich. Doch nein, das ist es nicht. Hier zu sein ist einfach eine Art, nirgendwo zu sein. (Seite 162)
Es hat ihm auch nicht geholfen, dass ihn alle auf dem Friedhof und während seiner Trauerzeit mit besonderer Freundlichkeit und Rücksichtnahme behandelten. Im Gegenteil: Er kam sich wie ein Schwindler vor. Denn er war "bloß als Zuschauer, als Komparse dabei gewesen, während Anna die ganze Arbeit des Sterbens alleine vollbracht hatte" (Seite 171). Habe ich schon über mein Trinken gesprochen? [...] Ich trinke wie einer, der vor kurzem verwitwet – verwitwert? ist – ein Mensch von geringem Talent und noch geringerem Ehrgeiz, der mit den Jahren grau geworden ist, unsicher und verirrt, einer der Trost braucht und den kurzen Aufschub eines durch das Trinken hervorgerufenen Vergessens. (Seite 168)
Max lädt den Colonel ein, mit ihm in einer Bar im Dorf etwas zu trinken. Der Colonel will aber nicht mitkommen, und so geht Max allein. Er trinkt einen doppelten Brandy nach dem anderen und lässt sich von einem Gast provozieren, sodass es zu einer Rangelei kommt, in die der Wirt eingreifen muss. Max scheint sich beruhigt zu haben, bestellt nochmals einen Brandy, und als dieser ihm verweigert wird, stürzt er zornig aus der Bar und torkelt in die "Zedern"-Villa. Im Treppenhaus begegnet er Colonel Blunden, mit dem er sogar noch eine Art von Unterhaltung führt. Max besinnt sich darauf, dass er auf dem Zimmer noch eine Brandyflasche hat. Die packt er sich unter den Mantel und geht noch einmal los. Er setzt sich am Strand in den Sand. Diese Flasche ist dann auch bald leer. Max fängt zu frieren an, rappelt sich hoch und geht in die Richtung zum Meer. Wollte er in die See waten und hinausschwimmen – "zu ihnen hinschwimmen"? Das weiß er nicht mehr. Jedenfalls stolpert er dann, schlägt mit der Schläfe auf einen Stein und verliert das Bewusstsein. – Der Colonel macht sich Sorgen, weil sein Mitbewohner so lange ausbleibt und sucht ihn. Und er schafft es, den Volltrunkenen auf sein Zimmer zu schleppen. Max wird es ganz fürchterlich übel; lauthals kotzt er aus dem Fenster und plumpst krachend auf den Fußboden, was wiederum den Colonel alarmiert, der entscheidet, dass medizinische Hilfe vonnöten ist.
Der Doktor, sagte er in einem Ton, als ob es auf der ganzen Welt nur einen einzigen gäbe, der Doktor, der vorhin da gewesen sei, während ich weg war – weg, so drückte er sich aus, und im ersten Moment fragte ich mich verwirrt, ob ich denn noch einmal, ohne es zu wissen, unten am Strand gewesen sei –, der Doktor also habe gesagt, dass ich scheinbar an einer mit einer zeitweiligen Alkoholvergiftung einhergehenden Gehirnerschütterng leide. Scheinbar? Scheinbar? Der junge Mann ist Jerome! Miss Vavasour und der Colonel informierten offenbar Mr Mordens Tochter von der Malaise ihres Vaters. Als Claire unausgeschlafen Max gegenübertritt, überrumpelt sie ihn unverzüglich mit der Nachricht, sie habe sich verlobt. "Verlobt?" Mit Jerome natürlich. Außerdem kündigt sie ihrem Vater energisch an, ihn nach Hause zu bringen, wo sie sich um ihn kümmern will. Kümmern werde nicht zuletzt darin bestehen, wird mir bedeutet, mir alle alkoholischen Stimulanzien [...] zu entziehen, und zwar so lange, bis der Doktor – der schon wieder –der Meinung ist, ich sei gesund genug für das eine oder für das andere, also lebenslänglich nehme ich an. (Seite 215)
Max mag es Claire gar nicht sagen, dass sein Bonnard-Buch bisher aus nichts weiter als "einem mutmaßlich ersten Kapitel" besteht, und nur ein "Notizbuch voller unorigineller, halb garer Möchtegern-Aperçus existiert". Nach Paris gehen und malen oder sich in ein Kloster zurückzuziehen wären Möglichkeiten, überlegt er; und das Haus werden sie mich wahrscheinlich auch nicht verkaufen lassen.
Ich stand bis zur Taille im Wasser [...] Und während ich dort stand, ging plötzlich, nein, nicht plötzlich, eher wie ein allmähliches Heranwallen, ging da ein Wogen durch die ganze See, und das war keine Welle, sondern ein sanft rollendes Ansteigen, das aus den Tiefen herauszukommen schien, als hätte sich dort unten ein gewaltiges Etwas geregt, und ich wurde kurz hochgehoben und und Stückchen näher zum Ufer hin getragen und abgesetzt und stand wieder auf meinen Füßen, als wäre nichts geschehen. Und es war wirklich nichts geschehen, ein bedeutungsschweres Nichts, nichts als einfach nur wieder einmal ein gleichgültiges Achselzucken der großen Welt. |
Buchbesprechung:
Ein alternder Mann denkt an seine Frau, die vor kurzem an einem Krebsleiden starb: Max Morden versucht, diesen Schicksalsschlag zu verarbeiten, und er muss sein Leben neu gestalten. Um nicht mehr in dem Haus zu sein, das er mit Anna in London bewohnte, fährt er an die Irische See, wo er vor fünfzig Jahren die Sommerferien verbrachte. Er will dort seine Gedanken ordnen. Mit diesem Ort verbinden ihn Erlebnisse, die ihm seither in Erinnerung blieben. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2008
John Banville (kurze Biografie / Bibliografie) |