John Banville: Der Unberührbare (Roman) |
John Banville: Der Unberührbare |
Inhaltsangabe:Victor Maskell, der angesehene Kunsthistoriker aus Cambridge und Konservator der königlichen Kunstsammlungen, wird kurz vor seinem zweiundsiebzigsten Geburtstag öffentlich als Doppelagent angeprangert. Ich war ehrlich überrascht, als man mir den Adelstitel absprach, das Trinitiy mir die Ehrendoktorwürde aberkannte und das Institut mir dezent zu verstehen gab, dass meine weitere Anwesenheit dort, und sei es auch nur zum Zwecke der Forschung, unerwünscht sei. (Aus dem Palast habe ich nichts gehört: Mrs W. hasst Skandale.) (Seite 146) Um mit Victor Maskell sprechen zu können und mehr von ihm zu erfahren, gibt eine junge Frau – Serena Vandeleur – sich zunächst als Journalistin und dann als Buchautorin aus. In den Gesprächen mit ihr, vor allem aber, wenn er allein in seiner Wohnung am Schreibtisch sitzt, erinnert Victor Maskell sich an frühere Erlebnisse, grübelt über sein Leben nach und hält seine Gedanken in einer Art Tagebuch fest. Schon nach kurzer Zeit merkt er, dass seine Aufzeichnungen den Rahmen eines Tagebuches sprengen. Als Tagebuch kann ich das hier wohl nicht mehr bezeichnen, denn es reicht gewiss weit hinaus über eine getreuliche Schilderung meiner Tage, die sich jetzt, wo der Skandal abgeflaut ist, ohnehin kaum noch voneinander unterscheiden. Nennen wir es also Erinnerungen; ein Skizzenbuch mit Erinnerungen. Oder machen wir gleich Nägel mit Köpfen und sagen, es ist eine Autobiografie, Notizen dafür. (Seite 84) Zugleich wundert Victor Maskell sich darüber, dass er zunächst weniger über sich selbst als über seine Begegnungen mit Freunden schreibt. Während ich mir diese Seiten noch einmal durchlese, bin ich verblüfft, wie wenig ich darin vorkomme. Natürlich ist überall das Personalpronomen, das Fundament des Gebäudes, das ich errichte, doch was steht hinter diesem kleinen Ich? (Seite 68) Victor Maskell wurde 1907 in Carrickdrum in Irland geboren, und zwar als Sohn eines protestantischen Pfarrers, der es später zum Bischof brachte. Sein Bruder Freddie war geistesgestört. Als die Mutter starb, war er noch keine fünf Jahre alt. Der Vater heiratete nach dem Trauerjahr in zweiter Ehe eine lebenslustige Frau mit "dicken Waschfrauenarmen" namens Hermione ("Hettie"). Als sie in unser Leben trat, gab ich mir alle Mühe, sie zu hassen und ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen, doch gegen ihre Fröhlichkeit kam ich nicht an. (Seite 97) Während des Studiums in Cambridge befreundete sich der eigenbrötlerische Pfarrersohn, der den Stoizismus pries, mit Kommilitonen, die sich vom Marxismus eine bessere Welt versprachen. "Apostel" nannten sie sich. Einmal ließ er sich im Rausch von seinem Freund Boy Bannister, der auch zu den "Aposteln" gehörte, ins Bett zerren. Am anderen Morgen blickte er verlegen auf den Boden, während Boy unbekümmert nach neuen homosexuellen Abenteuern Ausschau hielt und erzählte, wodurch er schwul geworden war: "Gott, war das furchtbar! Da war sie, die arme Mutter, platt auf dem Rücken, die Beine in der Luft, und hat gekreischt, und mein massiger Vater lag nackt auf ihr drauf, mausetot. Ich hatte meine liebe Not, ihn von ihr runterzukriegen. Und wie das gerochen hat! Zwölf Jahre war ich da alt. Seitdem kann ich keine Frau mehr angucken, ohne dass ich Maters weiße Brüste vor mir seh, wie ein Fischbauch die Farbe." (Seite 80f)
Zu Victors Freunden gehört auch Nicholas ("Nick") Brevoort, der Sohn des reichen Verlegers Max Brevoort (Brevoort & Klein, London). Mit ihm verbrachte Victor einen Sommer in London, und Nick nahm ihn auch einmal zu seiner Familie mit nach Oxford. 1936 reisten sie zusammen nach Spanien, aber trotz ihrer sozialistischen Überzeugung blieben sie nicht dort, um in einer der "Internationalen Brigaden" gegen Franco zu kämpfen. Zwei Jahre später schlug Nick seinem Freund eine Spritztour in seinen irischen Geburtsort Carrickdrum vor. Victor schämte sich für seinen Vater, der einen zerschlissenen Pullover trug, seine inzwischen noch dicker gewordene Stiefmutter und seinen sabbernden, schwachsinnigen Bruder. Nach drei Tagen reisten er und Nick wieder ab. Russland, begriff ich, war am Ende; was wir für den Anfang gehalten hatten, war in Wirklichkeit das Ende […] (Seite 189)
Es belustigte ihn, dass man im sowjetischen Geheimdienst glaubte, einen Agenten im unmittelbaren Machtzentrum Englands sitzen zu haben, weil er auf Schloss Windsor verkehrte und sowohl der König als auch "Mrs W[indsor]" hin und wieder mit ihm sprachen. Offenbar wussten die Sowjets nichts von der Machtlosigkeit des englischen Königshauses, dessen Rolle sich im Wesentlichen auf repräsentative Aufgaben beschränkte. Das Sexuelle war einfacher, als ich erwartet oder befürchtet hatte. (Seite 140)
Als Premierminister Neville Chamberlain und sein französischer Amtskollege Edouard Daladier am 29. September 1938 im Münchner Abkommen die Tschechoslowakei verrieten und sich bald darauf das Scheitern der Appeasement-Politik herausstellte, gingen viele von Victors Freunden zum britischen Geheimdienst, um auf diese Weise Flagge gegen Hitler zu zeigen. Nick vermittelte seinem Schwager ein Treffen mit Billy Mytchett, dem stellvertretenden Leiters des Militärischen Geheimdienstes, der nur drei Jahre älter als Victor war. Am Tag nach der Geburt seines Sohnes fuhr Victor nach Aldershot, um in Bingley Manor mit seiner Grundausbildung zu beginnen. Seine Kontakte zu den Russen brachen ab. Als jemand herausfand, dass er einmal in Russland gewesen war und in einem Zeitschriftenartikel über den "unaufhaltsamen Vormarsch des Weltsozialismus" geschrieben hatte, wurde er nach London beordert und von Mytchett zur Rede gestellt, aber er konnte sich herausreden. Als Nick mir fröhlich von dem Dynamit im Frachtraum erzählte, verspürte ich als Erstes einen starken Druck in der Brust und merkte dann, dass ich einfach nur den Drang hatte, laut loszulachen; wenn ich damals wirklich gelacht hätte, wäre daraus wahrscheinlich ein Schrei geworden. Als nächstes blitzte vor meinem geistigen Auge unglaublich klar und deutlich der Tod des Seneca auf, mitsamt dem Rahmen – englisch, Ende achtzehntes Jahrhundert, aber gut – und allem Drum und Dran: das Stückchen nordlichtbeschienene Wand in der Wohnung in der Gloucester Terrace, wo es damals hing, und sogar das Lacktischchen, das darunter stand. Ich hätte an Weib und Kind denken sollen, an Vater und Bruder, Tod, Jüngstes Gericht und Auferstehung, doch das tat ich nicht; ich habe, mag Gott mir vergeben, an das gedacht, was ich wirklich liebte. Dinge sind für mich immer wichtiger gewesen als Menschen. (Seite 298f) Während seiner Abwesenheit war Vivienne jedes zweite Wochenende zu ihren Eltern nach Oxford gefahren. Victor hatte ihr kein einziges Mal geschrieben. Beim Wiedersehen sagte sie sarkastisch: "Und, ja, deinem Sohn geht es auch sehr gut. Er heißt übrigens Julian, falls du das vergessen haben solltest." (Seite 303)
Ein Freund namens Querell brachte Victor in Bletchley Park unter, einer Dechiffrierungsstelle 60 Kilometer nördlich von London. Auch die Russen nahmen wieder Kontakt zu ihm auf, und zwar über einen Führungsoffizier namens Oleg Dawidowitsch Kropotzki. Sicher, der Liebesakt mit Danny Perkins war eine Erfahrung, die nicht die geringste Ähnlichkeit hatte mit den kühlen und immer etwas zerstreuten Pflichtübungen meiner Frau, aber dennoch wusste ich, wo ich war; o ja, ich wusste, wo ich war. Eigentlich rechnete ich fest damit, dass ich diese Nacht nicht überleben würde, in der die Heftigkeit der Leidenschaft, die ich empfand, mich genauso umbringen konnte wie die Bomben die Stadt, auf die sie herniederregneten, und doch blieb ich angesichts dieser Aussicht vollkommen gelassen; der Tod war ein gelangweilter, leicht angewiderter Geist, der ungeduldig in einer Zimmerecke saß und wartete, dass Danny und ich fertig wurden, damit er mich holen konnte und mich mitnehmen auf den letzten Gang. Ich schämte mich nicht für das, was ich mit mir machen ließ, das entsetzliche Gefühl von Grenzüberschreitung, das ich mir vorgestellt hatte, blieb aus. Im Grunde hat es mir beim ersten Mal, glaube ich, auch gar kein wirkliches Vergnügen bereitet. Ich kam mir, offen gesagt, eher wie jemand vor, der sich freiwillig für ein abstruses und bemerkenswert brutales medizinisches Experiment zur Verfügung gestellt hat. (Seite 394f) Victor hielt das Erlebnis zunächst für einen Ausrutscher, eine sexuelle Ausschweifung, die andere bereits im Internat hinter sich gebracht hatten. Jahrzehnte später fragt er sich: [...] wieso um alles in der Welt habe ich nur so lang gebraucht, bis mir klar war, dass ich andersrum bin? (Seite 286)
Ausgerechnet am Morgen nach Victors Liebesnacht mit Danny Perkins traf die Nachricht ein, dass Nicks Vater auf einer Straße in London durch ein Schrapnell getötet worden war. (Nick war inzwischen mit einer Frau namens Sylvia Lydon verlobt, und es hieß gerüchtweise, er treibe es auch mit ihrer Schwester Lydia.) Vivienne kaufte sich von ihrem väterlichen Erbe ein kleines Haus in Mayfair und zog mit den beiden Kindern hin. Die Fünfzigerjahre waren die letzte große Ära der Homosexualität. Heute redet ja alles von Freiheit und Stolz (Stolz!), aber diese jungen Hitzköpfe in ihren rosaroten Schlaghosen, die dafür plädieren, dass jeder das Recht haben soll, es auf offener Straße zu tun, wenn ihm danach ist, scheinen gar nicht zu ahnen oder zumindest nicht wahrhaben zu wollen, wie aphrodisierend Heimlichkeit und Angst wirken können. Wenn ich nachts loszog auf die Klappe, musste ich vorher immer eine Stunde lang einen großen Gin nach dem anderen kippen – als Nervenstärkung und um mich für die lauernden Gefahren zu stählen. Die Möglichkeit, zusammengeschlagen oder ausgeraubt zu werden oder mich mit einer Krankheit anzustecken, war nichts, verglichen mit der Aussicht auf Verhaftung und öffentliche Schmach. (Seite 476) Victors Sohn Julian heiratete und machte ihn zusammen mit seiner Frau Pamela zum Großvater. Der Gedanke, dass ich Enkelkinder habe, deprimiert mich ganz besonders. (Seite 346f)
Nach dem Tod Viviennes gestand ihm sein Freund Querell, dass er seit vielen Jahren ein Verhältnis mit ihr hatte. Victor tat so, als habe Vivienne ihm alles erzählt. |
Buchbesprechung:
Der zweiundsiebzigjährige, aus Irland stammende Kunsthistoriker Victor Maskell, wurde gerade als früherer Doppelagent angeprangert. Der Skandal und die Enttäuschung über Freunde, die ihn verrieten, veranlassen ihn, Bilanz zu ziehen.
Ich mag es nicht, wenn man mich anfasst. (Seite 524)
Seine einzige wirkliche Liebe galt der Kunst, vor allem dem Gemälde "Der Tod des Seneca" von Nicolas Poussin. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
John Banville (kurze Biografie / Bibliografie) |