Louis Begley: Erinnerungen an eine Ehe (Roman) |
Louis Begley: Erinnerungen an eine Ehe |
Inhaltsangabe:
Im Mai 2003 besucht der 70 Jahre alte Schriftsteller Philip eine Aufführung der New York City Ballet Compagnie im New York State Theater. Mit seiner Ehefrau Bella, die ebenfalls Bücher schrieb, und der Tochter Agnes hatte er teils in Paris, teils in New York gelebt. Außerdem besitzt Philip ein Haus außerhalb von Sharon/Connecticut, das er in den Fünfzigerjahren von einer unverheirateten Tante geerbt hatte. Agnes wurde im Central Park durch einen herabfallenden Ast erschlagen. Der Tod der Tochter machte Bella und Philip schwer zu schaffen. Dann erkrankte auch noch Bella während eines Urlaubs auf Barbados, und die Ärzte diagnostizierten lymphoblastische Leukämie. Ein halbes Jahr später starb sie. Ihre letzte Ruhe fand sie auf der Grabstätte ihrer Mutter auf dem Friedhof Montparnasse in Paris. Ihr Vater starb drei Jahre nach ihr im Alter von 94 Jahren. Ich hatte ungefähr alle Kinderkrankheiten durchgemacht, aber abgesehen von Erkältungen, die sich länger und länger hinzogen, und einer unangenehmen Bronchitis vor einigen Jahren war ich nie krank gewesen. Mit der Hilfe einer gelegentlichen Steroidinjektion in meinen Rücken konnte ich die meisten Ziele, die ich erreichen wollte, noch zu Fuß erreichen, und in ganz gutem Tempo. Mein Gedächtnis hatte keinen Schaden genommen. Eine Lesebrille war notwendig geworden, der graue Star war eine neuere Entwicklung, gegen die ich etwas unternehmen würde, und ich konnte nicht mehr so gut hören wie früher. Irreparabel war der Verlust an Leidenschaftlichkeit. Meine sporadischen Vereinigungen mit dieser oder jener relativ attraktiven Dame nach Bellas Tod waren Pawlow'sche Reflexe auf die immer gleichen Stimuli gewesen: die Willigkeit der Dame und die Mühelosigkeit der Transaktion. Diese schalen Affären brachte ich eine nach der anderen zu einem prompten und wie ich hoffte würdigen Ende.
In der Theaterpause trifft Philip auf die vier oder fünf Jahre jüngere Lucy De Bourgh Snow. Sie hatten sich vor einem halben Jahrhundert in Paris kennengelernt und während einer dreitägigen Hausparty außerhalb von Deauville auch einmal miteinander geschlafen, aber seit Ende der Siebziger- oder Anfang der Achtzigerjahre keinen Kontakt mehr miteinander gehabt. Im 18. Jahrhundert
Lucys [...] Eltern hatten nicht versucht, sie zu sehen oder mit ihr zu sprechen, seit sie aus Genf zurück war. Schon gar nicht hatten sie die Tochter eingeladen, nach Hause zu kommen. Sie hatte mit niemandem aus ihrer Familie Kontakt, außer mit ihrem Bruder John, mit dem sie alle paar Wochen telefonierte, und mit der Sekretärin ihres Vaters, wenn es um Geld ging, aber das war kaum nötig, da ihr Unterhalt aus dem Fonds bezahlt wurde und sie mit dem Treuhandverwalter selbst verhandeln konnte. Während Lucy ihr Praktikum bei "Vogue" in Paris machte, wurde sie die Geliebte des renommierten Schweizer Journalisten Hubert Brillard. Er bot an, mich nach Hause zu begleiten, und erzählte mir auf dem Weg, dass er eine Frau und zwei kleine Töchter habe. Du weißt, wie ich war. Ich forderte ihn auf, trotzdem auf einen letzten Drink mit in meine Wohnung zu kommen, und kaum waren wir drinnen, griff ich nach ihm. Ich wusste, was ich tat. Er konnte lieben wie ein Gott – so hatte mich noch nie einer gefickt. Auch nach ihm keiner mehr.
Einen Monat nachdem Lucy und Thomas sich verlobt hatten, reiste sie allein nach Europa, angeblich nur, um ihre Angelegenheiten in Paris in Ordnung zu bringen, tatsächlich jedoch vor allem, um sich mit Hubert in London zu treffen. Als sie mit ihrem Liebhaber beim Essen saß und sich an ihn schmiegte, wurden sie von Will Reading gesehen, der sich während des Studiums an der Business School mit Thomas angefreundet hatte. Selbstverständlich rief er Thomas an und berichtete ihm darüber. Trotzdem fand die Hochzeit statt, kurz nachdem Thomas sein Studium abgeschlossen hatte.
Aber hat er einen Finger gerührt, um mir zu helfen, als Jamie dann da war? Zu beschäftigt, zuerst in der Business School und dann im Büro, oder zu beschäftigt mit den Unterlagen, die er mit nach Hause gebracht hatte, oder zu müde. Nur zum Ausgehen oder zum Ficken war er nie zu müde. Weiß du noch, wie ich dir in Paris gesagt habe, er braucht mich? Schau mich an, Philip. Klar brauchte er mich. Nur eine Ehefrau brauchte er nicht. Er brauchte eine Hure im Haus, eine mit einem dicken Bankkonto, die seine Rechnungen bezahlt und ihm zeigt, wie man in der großen Welt lebt. Was glaubst du, woher er seinen ganzen Schliff hatte? Von der Buchhalterin oder dem Mann mit der Autowerkstatt?
Lucy behauptet, Thomas habe sie mit Jane betrogen, der Frau, die er nach der Scheidung dann auch heiratete. Das sei der Grund für das Scheitern der Ehe gewesen. Bitter fügt sie hinzu, Jane habe ihn erst genommen, als er durch seine erste Ehefrau reich geworden war. Diese schöne, intelligente, boshaft witzige junge Frau, immer zu einem neuen Nervenkitzel bereit, hatte sich alles verpatzt. War Thomas wirklich so ein Scheusal? Um mehr darüber herauszufinden, trifft Philip sich mit Thomas' Witwe Jane, die inzwischen mit Ned Morgan verheiratet ist. Kurz fasst er zusammen, was er von Lucy gehört hat. Was für eine schreckliche Frau!, gab Jane zurück. Wenn man bedenkt, wie sie ihn terrorisiert hat! Thomas, der in jeder Sitzung das Heft in der Hand hatte, der die führenden Köpfe großer Gesellschaften, Chefs von Zentralbanken, Politiker, Kabinettminister hypnotisierte, wollte sich nur noch verstecken, unter dem nächsten Möbelstück verkriechen, wenn sie anrief [...]
Dass Jamie ein Versager sei, treffe auch nicht zu, meint Jane. Thomas habe ihm zwar anfangs hin und wieder finanziell ausgeholfen, aber Jamie könne mit seinen Honoraren als Drehbuchautor immerhin seine Familie gut ernähren. Vehement streitet Jane ab, mit Thomas intim gewesen zu sein, solange er noch mit Lucy zusammen war. Jane war damals selbst noch verheiratet, mit dem Rechtsanwalt Horace Jones, einem Partner in der Kanzlei, zu deren Mandanten das von Thomas und Tim Carroll gegründete Unternehmen zählte. Sie habe Horace nicht wegen Thomas verlassen, wie Lucy behauptet, erklärt Jane, sondern weil sie einmal zu oft von ihm mit einer anderen Frau betrogen worden sei. Ich war entschlossen, zu verstehen, warum diese verdrehte, aber schöne, charmante und verführerische junge Frau, die mir im Gedächtnis geblieben war, sich so verändert hatte, so verbittert, aggressiv und zänkisch geworden war.
Argwöhnisch fragt sie ihn, ob er sich so für ihre Ehe mit Thomas interessiere, weil er darüber einen Roman schreiben wolle. Philip gibt zwar zu, dass bei einem Schriftsteller alles, was er erlebt und erfährt, in die Bücher einfließen kann, beteuert jedoch, er werde keinen Schlüsselroman schreiben. |
Buchbesprechung:
In seinem Roman "Erinnerungen an eine Ehe" lässt Louis Begley einen 70-jährigen Schriftsteller als Ich-Erzähler auftreten. Aber die Darstellung ist multiperspektivisch, denn der Protagonist Philip hört nicht nur Lucy zu, wenn sie von ihrer gescheiterten Ehe mit Thomas erzählt, sondern befragt dazu auch andere, die das Ehepaar kannten. Mit Thomas kann er allerdings nicht mehr reden: Der Freund starb vor fünf Jahren. Anfangs befürchtet Philip, seine äußerst positive Vorstellung von Thomas revidieren zu müssen, aber in den Gesprächen mit anderen stellt sich heraus, dass Lucys Darstellung einseitig ist und wohl auch auf einer Lebenslüge basiert. Daraus ergibt sich die Frage nach wahr und falsch. Lässt sich durch den Vergleich subjektiver Wahrnehmungen ein objektives Bild gewinnen? [...] hatte ich nie gedacht, ich wisse, was ein von mir oder einem anderen geschriebener Roman "eigentlich sagen will, ein Mangel, der es mir erschwert hat, mit gelegentlichen Buchkritiken ein bescheidenes Zubrot zu verdienen oder Journalisten zu antworten, die wissen wollten, welche Botschaften Leser aus meinem neuesten Buch mitnehmen sollten. Meine Standardantwort – die ehrlich ist und kein lahmer Versuch, ein Koan zu prägen – lautet, dass ein Buch das sagen will, was darin steht. In diesem Sinne sind meine Romanpersonen die Summe der Handlungen und Worte, mit denen ich sie ausstatte [...] Den Roman "Erinnerungen an eine Ehe" von Louis Begley gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christian Brückner (Regie: Waltraut Brückner, Berlin 2013, 360 Minuten, ISBN 978-3-941004-49-8). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Louis Begley (kurze Biografie / Bibliografie) |