Louis Begley: Der Mann, der zu spät kam (Roman) |
Louis Begley: Der Mann, der zu spät kam |
Inhaltsangabe:
Ben und Jack lernten sich als Studenten in Harvard kennen. Sie waren drei Jahrgänge auseinander. Ihre Freundschaft begann, als sie nach dem Studium beide in New York lebten, wo Jack als Wissenschaftsjournalist tätig war und Ben bei einer alteingesessenen, renommierten Investment Bank an der Wall Street anfing. Aber das Problem ist nur vorgeschoben: Der eigentliche, verborgene Grund, weshalb ich mich schuldig fühle, ist, dass ich Angst davor habe, Véronique und Laurent bei mir aufzunehmen. Ich habe keine Lust mehr, den Stiefvater zu spielen; die haben mir die Zwillinge gründlich ausgetrieben. (Seite 151)
Im November 1970 hatte Ben in Rio de Janeiro mit Brasilianern, Japanern und Belgiern Verhandlungen über ein petrochemisches Projekt zu führen. Zuvor musste er unerwartet zu den japanischen Geschäftspartnern nach Tokio.
Eine schwere, ihn paralysierende Trägheit ergriff Besitz von ihm, er mochte nur noch gähnen, sich räkeln und schlafen. (Seite 184)
Sein Freund Dr. Alvaro de Carvalho nahm ihn mit zu einer Party bei dem aus Deutschland stammenden Zahnarzt Dr. Willi, der – wie Ben erst vor Ort merkte – einen Prostituiertenring in Rio de Janeiro betrieb. Dr. Willi schickte eines seiner Mädchen zu Ben, und Lotte schmiegte sich gleich an ihn. Unterbrochen wurden sie in ihren Liebkosungen, als Carvalho und der Zahnarzt Lottes Brustumfang messen wollten. Die anderen Frauen hatten ihre Oberteile bereits abgelegt, und bald waren die ersten ganz nackt. Ben nahm Lotte in sein Hotelzimmer mit und flog im Dezember mit ihr für einige Tage nach Angra dos Reis, wo das Paar die Tage in einsamen Buchten verbrachte. Ich war überzeugt, wenn Véronique Ben liebte und er sie auch, dann könnte er mit ihr ein neues, ungleich erfüllteres und unterhaltsameres Leben beginnen. Ben hatte einfach erheblich mehr zu bieten als Paul Decaze. Aber jetzt war er mit Véronique gescheitert, und sie und Paul hatten es in die Hand genommen, die Krise zu überwinden. (Seite 229)
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Monatelang redete Véronique nicht mehr mit Ben. Als er im Sommer nach Paris kam und sie telefonisch bat, mit ihm essen zu gehen, willigte sie ein. Sie trafen sich am 7. Juli 1971 im Crillon. Sie sagte: Ben, du hast dich überhaupt nicht verändert. Du redest aus Angst vor dem Schweigen und hörst dir dabei selber zu. (Seite 242) Ben versuchte, ihr zu erklären, dass er aus "Misstrauen gegen die eigene Person" und manchmal auch aus Selbsthass gezaudert habe, und er gestand ihr, in Brasilien mit einer Prostituierten zusammen gewesen zu sein. Das verstand Véronique überhaupt nicht; sie sei doch zu allen sexuellen Praktiken bereit gewesen, meinte sie. Dann fragte sie abrupt: "Können wir jetzt in dein Zimmer gehen?" Als sie ihr Kleid ablegte, sah Ben, dass sie keine Unterwäsche trug. Obwohl sie schwanger war, forderte sie Ben auf, sie so brutal wie möglich von hinten zu nehmen. Nach dem Orgasmus erzählte sie ihm, sie sei mit Paul und Laurent beim Skifahren in Verbier gewesen, als sie seine beiden Briefe aus Brasilien bekommen habe. Unter dem Vorwand, sie müsse wegen Blutungen zu ihrem Gynäkologen in Paris, reiste sie auf der Stelle ab und ließ ihren Mann und ihren Sohn zurück. Die Flüge von Genf nach Paris waren ausgebucht, und sie bekam nur noch einen Platz in der Touristenklasse, in der hintersten Reihe der letzten Maschine an diesem Tag. Statt des Essens ließ sie sich eine Decke geben und schlief ein. Neben ihr saß ein dicker Kerl, der auf seinem Sitz kaum genügend Platz hatte. Sie wachte auf, als er unter der Decke mit den Fingern in sie eindrang. In Orly folgte sie ihm ins Hilton. Sie trieben es, bis ihre Genitalien wund waren und die Körpersäfte sich rötlich färbten. Dann zeigte der Dicke Véronique eine Sammlung pornografischer Fotos, die er gemacht hatte, packte eine Kamera und ein Stativ aus und knipste sie und sich in verschiedenen Positionen. Schuld daran bist du, du Bastard, zischte sie Ben an, du hast mich zerbrochen, du hast mich dazu gebracht. (Seite 248) Das Kind sei von dem Dicken, aber sie wolle es austragen. Was jetzt, Ben? Willst du mich aufnehmen, mit dem Baby? Vergiss nicht: Du hast dieses Kind gemacht, der Mann war nur Zufall. (Seite 249) In den Wochen nach dem Treffen mit Véronique war Ben geschäftlich viel unterwegs. Zu einer Verabredung mit Jack und Prudence erschien er mit der französischen Architektin Marie-France, deren Brustwarzen sich deutlich unter der durchsichtigen weißen Bluse abzeichneten. Ich stinke nach Einsamkeit und Verlorenheit. (Seite 224) Als er in Genf zu tun hatte, besorgte er sich in einer Apotheke zusätzlich zu den vorhandenen sechsundzwanzig Sekonal-Schlaftabletten dreißig weitere. Die wollte er zusammen mit Beruhigungstabletten schlucken und dabei eine Flasche Burgunder trinken. Dann verließ er jedoch das Hotel, ging auf den Pont de la Machine und sprang vor den Augen englischer Touristen mit dem Kopf voraus in die Tiefe. Das geschah am 13. August 1971. |
Buchbesprechung:Ein Paradoxon, an dem er im Lauf der Zeit sogar Gefallen fand, war typisch für Ben: Immer dann, wenn lebenswichtige Entscheidungen auf dem Spiel standen, kam er, der pünktlichste und zuverlässigste Mensch unter der Sonne, zu spät – er verpasste seinen Zug. (Seite 7) Mit diesen Worten beginnt Louis Begley seinen Roman "Der Mann, der zu spät kam". Jack, der beste Freund dieses Mannes – er heißt Ben –, ist der Erzähler. Vor seinem Suizid setzte Ben ihn als Nachlassverwalter ein. Auf diese Weise kam Jack in den Besitz umfangreicher Notizen seines unglücklichen Freundes. Ich kann die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, dass Ben mit diesem Text, ganz gleich, wann er ihn schrieb, Theater spielte, wie so oft, nicht weil er ein Poseur war, sondern – aus Mutlosigkeit. Ben betonte gern im Scherz, er habe sich selbst erfunden und sei sich deshalb seiner Gefühle in Bezug auf Personen oder Sachen nie wirklich sicher. (Seite 44) Jack schildert, was er im Lauf der Jahre von Ben und Véronique erfuhr. Zwischendurch zitiert er seitenlang aus Briefen und Aufzeichnungen. Auf diese Weise entsteht das berührende Porträt eines erfolgreichen Bankers, der seine jüdische Herkunft verdrängte, sich gewissermaßen selbst erfand, aber immer dann, wenn er vor einer für ihn persönlich bedeutsamen Entscheidung stand, so lange zauderte, bis es zu spät war. – "Der Mann, der zu spät kam" ist ein unaufgeregt und zurückhaltend geschriebener Roman von Louis Begley, der auch hier mit einer differenzierten und einfühlsamen Charakterzeichnung brilliert. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Louis Begley (kurze Biografie / Bibliografie) |