Antonia S. Byatt: Besessen (Roman) |
Antonia S. Byatt: Besessen |
Inhaltsangabe:
Der englische Literaturwissenschaftler Roland Michell machte 1978 seinen Abschluss am Prince Albert College in London und promovierte dort 1985 über den viktorianischen Dichter Randolph Henry Ash. Sein Doktorvater war James Blackadder, der seit 1959 die Gesammelten Werke von Randolph Henry Ash herausgibt. Während Roland sich bei mehreren Universitäten beworben hat und auf Antworten wartet, arbeitete er als Teilzeit-Assistent für Blackadder. Seit seinem achtzehnten Lebensjahr lebt er mit seiner damaligen Kommilitonin Val zusammen.
Püppchen ist verschwiegen
Sie nimmt die Puppe aus dem Bett, greift unter die Matratze – und hält zwei Briefbündel in der Hand: Briefe von Randolph Henry Ash an Christabel LaMotte und von der Dichterin an ihn! Sie lagen dort seit fast einem Jahrhundert. Sir George zögert allerdings,
Ich war bemüht, anfangs zusammen mit Miss LaMotte, später allein, in diesem kleinen Haus ein Leben zu führen, dem die Überzeugung zugrunde lag, dass allein stehende Frauen miteinander ein nützliches und menschlich erfülltes Leben zu führen vermögen, ohne auf die Außenwelt, ohne auf Männer angewiesen zu sein. Wir hatten geglaubt, es sei möglich, ein Leben zu führen, das der Schlichtheit geweiht war, der Enthaltsamkeit, der Mildtätigkeit, der Philosophie, der Kunst und der Harmonie miteinander und mit der Natur. Bedauerlicherweise hatten wir uns getäuscht. (Seite 373)
Vor ihrem Selbstmord hatte Blanche sich offenbar allein in Christabels Haus aufgehalten. Wo war die Lyrikerin zwischen Juli 1859 (nach der Reise mit Randolph Henry Ash) und Juni 1860 (als Blanche sich das Leben nahm)? Wie Sie möglicherweise wissen, war Mademoiselle de Kercoz über ihre väterliche Großmutter mit Christabel LaMotte verwandt. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, dass im Herbst 1859 LaMotte ihre Familie in Fouesnant besucht zu haben scheint. Meine Quelle ist ein Brief von Sabine de Kercoz an ihre Cousine Solange [...] (Seite 381)
Leonora ahnt nicht, was diese Information für Maud bedeutet: Christabel war also im Herbst 1859 in der Bretagne, vermutlich nicht nur für ein paar Tage. Heimlich notiert Maud sich die Adresse von Ariane Le Minier. Kurz entschlossen reist sie mit Roland nach Frankreich und lässt Leonora, die bei ihr im Haus bleibt, in dem Glauben, sich irgendwo heimlich für ein paar Tage mit einem Liebhaber zu treffen. Ariane Le Minier hat wenig Zeit, weil sie auf dem Weg nach Südfrankreich in den Sommerurlaub ist, aber sie gibt Maud die Fotokopie eines Tagebuches von Sabine de Kercoz mit, das sie kürzlich entdeckte. Maud und Roland beschließen, in der Bretagne Ferien zu machen und fahren nach Finistère. Dort lesen sie die Tagebuchaufzeichnungen. Sabine Lucrèce Charlotte de Kercoz, die damals noch ein junges Mädchen war und ihre Cousine Christabel anhimmelte, schrieb im April 1860, die Besucherin sei augenscheinlich schwanger. Am 28. April verschwand Christabel plötzlich, und als sie am 8. Mai wieder auftauchte, war sie zwar bleich und wieder schlank, brachte aber kein Kind mit. Fragen wollte sie keine beantworten. Aber was wurde aus dem Kind? Starb es bei der Geburt? Falls es überlebte: Wo wuchs es auf? Handelte es sich um einen Sohn oder eine Tochter?
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Euan und Val fahren nach Hodershall und nehmen sich ein Zimmer im Old Rowan Tree Inn, in dem inzwischen auch Cropper und Hildebrand Ash abgestiegen sind. Sie observieren die beiden, bis sie merken, dass es Ernst wird. Dann alarmieren sie ihre Mitverschworenen telefonisch. Mitten in der Nacht fahren Cropper und Ash zum Friedhof. Obwohl ein Sturm losbricht, schaufeln sie weiter, bis Cropper die Kassette findet. Als er sie zum Wagen bringen will, wird dieser gerade von einem entwurzelten Baum zertrümmert. Maud und Roland, Val und Euan, Beatrice, Leonora und James Blackadder treffen ein und drohen den Grabschändern mit einer Anzeige. Sie zwingen Mortimer P. Cropper und Hildebrand Ash, mit ihnen zum Old Rowan Tree Inn zurückzulaufen und dort die Kassette zu öffnen. Sie enthält unter anderem einen an Randolph Henry Ash adressierten und noch immer versiegelten Umschlag. Den hatte Ellen Ash zusammen mit einem an sie gerichteten Brief im Spätherbst 1889 von Christabel LaMotte erhalten, ihrem schwer kranken Ehemann jedoch nicht mehr ausgehändigt. Ungeduldig schneidet Cropper das Kuvert auf und liest das Schreiben vor: Christabel LaMotte wollte Randolph Henry Ash kurz vor dessen Tod mitteilen, dass er eine Tochter hatte: May. Ohne etwas von ihrer Herkunft zu ahnen, war May als Tochter von Sophie Bailey aufgewachsen. Maud ist also nicht nur mit Christabel LaMotte verwandt, sondern sie stammt von ihr und Randolph Henry Ash ab und ist damit ohne Zweifel die Erbin des Briefwechsels der beiden! |
Buchbesprechung:Roland Michell schlägt ein Buch auf – ohne zu ahnen, dass sich dadurch sein Leben verändern wird. Bald ist der junge Literaturwissenschaftler nämlich davon besessen, eine Liebesaffäre zwischen einem verheirateten Dichter und einer lesbischen Dichterin im Viktorianischen Zeitalter aufzudecken. Hilfe sucht er bei seiner Kollegin Maud Bailey, die sich zunächst abweisend verhält, dann aber von Rolands Obsession angesteckt wird – und sich in ihn verliebt. Aufgrund schmerzvoller Erfahrungen wollen Maud und Roland ihre Gefühle für einander nicht wahrhaben; sie wagen es nicht, sich darauf einzulassen – bis sie durch das Beispiel der von ihnen erforschten Beziehung eines Besseren belehrt werden. Spannend ist dabei, dass die Liebe im 19. Jahrhundert viel wagemutiger und kompromissloser voranschreitet als die Liaison der von postfreudianischen Ängsten gepeinigten Rechercheure [...] Während [...] Ash und Christabel an den ehernen Gesetzen viktorianischer Moral scheitern, ist es bei den zögerlichen Modernen das prinzipielle Misstrauen gegen jede Idee von Romantik, das sie immer wieder straucheln lässt. (Rainer Gansera, Süddeutsche Zeitung, 30. November 2002)
In ihrem Roman "Besessen" spiegelt Antonia S. Byatt eine amour fou im Jahr 1859 in einer Romanze, die sich 127 Jahre später ereignet. Weil die viktorianische Liebesgeschichte 1986/87 durch Literaturwissenschaftler recherchiert wird und dabei mehrere Parteien konkurrieren, verbinden sich in "Besessen" literarische und kriminalistische Aspekte. Zwei- oder dreimal erlaubt Antonia S. Byatt sich eine Rückblende, aber sie baut in ihren Roman zahlreiche zum Teil seitenlange Briefe, Märchen und Gedichte aus der viktorianischen Zeit ein. Nur durch entsprechende Hinweise in den (fiktiven) Quellen erschließt sich die Leidenschaft der beiden Liebenden im Jahr 1859. Leserinnen und Leser müssen einiges an Geduld mitbringen, denn Antonia S. Byatt erzählt auch das Geschehen in der Gegenwart sehr gemächlich. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005/2007
Antonia S. Byatt (Kurzbiografie / Bibliografie) |