Joseph Conrad: Herz der Finsternis (Roman) |
Kritik: Joseph Conrad schildert in seiner weitgehend autobiografischen Erzählung realistisch, mit einfühlsamer Beobachtungsgabe und treffenden Formulierungen eine strapaziöse und gefährliche Reise nach Zentralafrika, in das "Herz der Finsternis" – ein Sinnbild für die Abgründe der eigenen Seele. ![]() |
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Joseph Conrad: |
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Inhalt: Kapitän Marlow übernimmt 1891 an der Mündung des Kongo einen Flußdampfer und fährt damit zwei Monate lang ins Landesinnere. Dort trifft er auf den europäischen Handelsagenten Kurtz, dem der Ruf vorauseilte, "mehr Elfenbein als alle anderen Agenten zusammen gesammelt, eingetauscht, erschwindelt oder gestohlen" zu haben ... ![]() |
Originaltitel: Heart of Darkness Erstveröffentlichung: Blackwood's Magazine 1899 Herz der Finsternis Deutsche Erstausgabe: 1926 Neue Übersetzung: Urs Widmer Haffmans Verlag, Zürich 1992 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 20, München 2004 Neuübersetzung: Sophie Zeitz dtv, München 2005 |
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Joseph Conrad: Herz der Finsternis |
Inhaltsangabe:
Schwarze Gestalten hockten, lagen, saßen zwischen den Bäumen, lehnten sich gegen die Stämme, krümmten sich am Boden, von dem trüben Licht kenntlich und unsichtbar gemacht, in allen Stellungen des Schmerzes, der Verlassenheit und der Verzweiflung. ... und das hier war der Ort, an dem sich einige der Helfer zurückgezogen hatten, um zu sterben.
Diesen "Todeshain" hat es tatsächlich gegeben. Jede Menge staubiger, plattfüßiger Neger kamen und gingen; ein Strom aus Industriegütern, Baumwolltüchern miesester Qualität, Glaskugeln und Messingdraht floss in die Tiefen des Finsternis, und zurück kam ein kostbares Rinnsal aus Elfenbein.
Hier erfährt Marlow von dem geschniegelten, an "die Schaufensterpuppe eines Friseurs" erinnernden Buchhalter zum ersten Mal Näheres über Kurtz, dem "erstklassigen Agenten" einer anderen Station, die "wirklich mittendrin, im eigentlichen Elfenbeinland" liegt. Kurtz – dieser Name und die damit verbundenen Gerüchte – werden sich Marlow bis zuletzt einprägen und ihn während der gesamten Reise verfolgen. Über diesen Kurtz, den die wenigsten, die von ihm sprechen, jemals gesehen haben, kursieren die ehrfürchtigsten Bekundungen seiner Tätigkeit. "... eine sehr bemerkenswerte Person ... Er schickt uns so viel Elfenbein wie alle anderen zusammen." Trampelpfade, überall Trampelpfade; ein in die Erde getrampeltes Netz aus Pfaden, das sich über ein leeres Land ausbreitete, durch hohes Gras, durch niedergebranntes Gras, durch Dickicht, in frostkalte Schluchten hinunter und hinauf, auf hitzeglühende Steinhügel hinaus und hinunter, und eine Einsamkeit, eine Einsamkeit, niemand, keine Hütte. ... Tag für Tag das Stampfen und Schlurfen von sechzig nackten Fußpaaren hinter mir, jedes Paar unter einer Last von dreißig Kilo. Camp aufstellen, kochen, schlafen, Camp abbrechen, marschieren. Hie und da ein toter Träger, mit seinem Joch im hohen Gras neben dem Pfad liegend, mit einem leeren Wasserkürbis und seinem langen Stab.
Nach fünfzehn Tagen erreicht die Gruppe die Zentralstation, wo sie vom Direktor schon erwartet werden. Endlich soll Marlow also sein Schiff übernehmen: Das ist aber vor Monaten gesunken und muss erst gehoben und repariert werden. Die Arbeiter sind mürrisch und faul; die zur Reparatur benötigten Teile treffen, wenn überhaupt, nur nach und nach ein. Drei Monate werden für die Instandsetzung des Wracks veranschlagt. Während dieser Zeit streunt eine Gruppe von Männern in der Siedlung herum. Der Chef der Station im Innern ... Er ist ein Monstrum ... Er ist ein Botschafter der Barmherzigkeit und der Wissenschaft und des Fortschrifts und von weiß der Teufel was noch. Wir brauchen, um die hohe Aufgabe zu bewältigen, die uns von Europa sozusagen übertragen worden ist, vertieftes Wissen, weitreichende Zustimmung, zielgerichtete Beharrlichkeit. ... darum kommt er hierher, ein besonderes Wesen, wie Sie wissen sollten.
Marlow wird immer neugieriger auf diese von allen verehrte Person, zumal sie so anders zu sein scheint als die anderen Weißen, die er hier in der Wildnis bisher kennen gelernt hat. Und zwischendurch musste ich noch auf den Wilden aufpassen, der mein Heizer war. Er war ein Spitzenmann: konnte einen vertikal stehenden Kessel heizen. Dort war er, tief unter mir, und, ich schwörs euch, sein Anblick war so aufbauend wie der eines Hundes, der in Hosen und Federn auf den Hinterbeinen geht. Ein paar Monate Übung hatten bei diesem wirklich wundervollen Burschen ausgereicht. Er schielte mit einer erkennbaren Anstrengung, keine Angst zu zeigen, nach der Dampfdruck- und der Wasseranzeige – und er hatte zudem spitz gefeilte Zähne, der arme Kerl, und zu seltsamen Mustern geschorene Wolle auf seinem Schädel, und drei Ziernarben auf jeder seiner Wangen. ... Er schuftete hier, ein Knecht fremder Zauberkunst, voller Kenntnise, die mit jedem Tag größer wurden. ... Was er gelernt hatte, war: sollte das Wasser in dem durchsichtigen Ding verschwinden, würde der böse Geist im Kessel zornig werden, weil er einen furchtbaren Durst bekam, und sich schrecklich rächen. Also schwitzte und heizte er, und beobachtete angstvoll das Glas (mit einem improvisierten Talisman aus Lumpen am Arm, und einem Stück eines zugespitzten Knochens, das ihm mit der stumpfen Seite nach unten in der Unterlippe steckte), während die waldigen Ufer langsam an uns vorbeiglitten ... Der Kessel schien tatsächlich einen schlecht gelaunten Teufel in sich zu haben und folglich hatten weder jener Heizer noch ich Zeit, in unsern schauervollen Gedanken zu baden. Unterwegs sind Stromschnellen immer wieder eine Gefahr, und manchmal läuft der Dampfer auf Grund. Dann müssen zwanzig Kannibalen schieben:
Wir hatten unterwegs ein paar dieser Kerle angeheuert. Gute Leute – Kannibalen – wenn sie zu Hause waren. Man konnte mit ihnen arbeiten, und ich bin ihnen dankbar. Immerhin fraßen sie sich nicht gegenseitig vor meinen Augen: sie hatten einen Vorrat aus Flusspferdfleisch mitgebracht, das langsam faulig wurde, sodass mir das Geheimnis der Wildnis immer mehr in die Nase stank. ... Marlow wird immer ungeduldiger, endlich Kurtz zu treffen. Aber sie müssen sich weiter und weiter den Fluss hochquälen:
Diesen Fluss hochzufahren war wie eine Reise zu den frühesten Tage der Erde, als wirre Pflanzen sie überwucherten und die großen Bäume Könige waren. Ein leerer Strom, eine große Stille, ein undurchdringlichder Wald. Die Luft war warm, dick, schwer, zäh. Im Glanz des Sonnenscheins lag keine Freude. Die langen Streckenabschnitte des Flußlaufs dehnten sich öde vor uns und führten ins Düster schattenverhangener Fernen hinein. Auf silbrig glänzenden Sandbänken sonnten sich nebeneinander Flußpferde und Krokodile. ... Und dieses Schweigen des Lebens glich in nichts irgendeinem Frieden. Es war das Schweigen einer gnadenlosen Macht, die über unverstehbaren Plänen brütete. Uns rachsüchtig ansah.
Zwei Monate, nachdem sie die Bucht verließen, erreichen sie das Ufer unter der Station von Kurtz. Ist es wahr, wie Marlow mittlerweile zu Ohren gekommen ist, dass Kurtz sehr krank oder vielleicht schon gestorben ist? Dieses Treffen ist Marlows alles beherrschender Gedanke und er wäre äußerst enttäuscht, wenn er diese "Riesenreise" gemacht hätte, ohne mit diesem zu einem Phantom stilisierten Mann zu sprechen. Das ist es, was er möchte: mit ihm sprechen, seine Stimme hören. Nicht nur dass Kurtz der Ruf vorauseilte "mehr Elfenbein als alle anderen Agenten zusammen gesammelt, eingetauscht, erschwindelt oder gestohlen" zu haben, er wurde auch überschwänglich als mitreißender Redner bezeichnet. Marlow hat ihn sich nicht als agierende Person vorgestellt, sondern der Mann ist für ihn eine Stimme. ... er war eindrucksvoll kahl. Die Wildnis hatte ihm über den Kopf gestrichen, und, wumms, war er wie ein Ball – ein Ball aus Elfenbein; sie hatte ihn gestreichelt, und – zack! – war er verwelkt; sie hatte ihn genommen, geliebt, umarmt, war in seine Adern eingedrungen, hatte sein Fleisch verschlungen und seine Seele durch irgendwelche unvorstellbare teuflische Initiationszeremonien an die ihre gekettet. Er war ihr verhätschelter und verwöhnter Liebling.
Marlow will sich von dem fabelhaften Organisator in der Wildnis selbst ein Bild machen. Es geht ihm darum herauszufinden, "zu was er gehörte, wie viele Mächte der Finsternis ihn für sich beanspruchten". Wie kam es, dass "er einen hohen Rang unter den Teufeln des Landes eingenommen hatte"? Es wird wahrscheinlich so sein, denkt Marlow, dass "nie ein Trottel seine Seele dem Teufel verkauft: entweder ist der Trottel dafür zu vertrottelt oder der Teufel zu teuflisch ... Oder vielleicht ist einer ein so donnernd erhabenes Wesen, dass er taub und blind für alles ist, was nicht wie der Himmel aussieht und klingt. Dann ist die Erde für ihn nur ein Wartesaal ..." ... in der Nähe des Hauses war ein Dutzend dünner Pfosten stehengeblieben, alle in einer Reihe, roh behauen, am oberen Ende mit runden geschnitzten Kugeln verziert. Diese "ornamentalen Bemühungen" erstaunten Marlow, weil sie ihm angesichts des verlotterten Zustands des Orts "ziemlich bemerkenswert" schienen. Mit seinem Fernglas sieht er, worum es sich handelt: ... meine erste Reaktion war, dass ich meinen Kopf nach hinten warf, als hätte ich einen Faustschlag gekriegt. Dann bewegte ich mein Fernglas sorgfältig von Pfosten zu Pfosten und erkannte meinen Irrtum. Diese runden Kugeln waren nicht ornamental, sondern symbolisch; sie waren ausdrucksstark und verwirrend, schlagend und aufwühlend – Nahrung fürs Denken und auch für die Geier, falls gerade welche vom Himmel herabsahen; auf jeden Fall für jene Ameisen, die fleißig genug waren, die Pfosten hochzuklettern. Sie wären sogar noch eindrucksvoller gewesen, jene Schädel an den Pfostenspitzen, wenn ihre Gesichter nicht dem Haus zugewandt gewesen wären. ... Ich wandte mich ohne Hast wieder dem ersten zu, den ich gesehen hatte – und da war er, schwarz, vertrocknet, eingefallen, mit geschlossenen Augenlidern – ein Kopf, der auf der Spitze dieses Pfahls zu schlafen schien und der, weil die eingeschrumpften, trockenen Lippen eine weiße Zahnreihe sehen ließen, auch lächelte, unentwegt über irgendeinen endlosen und witzigen Traum jenes ewigen Schlummers lächelte.
Marlow wird belehrt, er hätte keine Vorstellung von den Verhältnissen hier: diese Schädel seien die Schädel von Aufständischen. ... durch mein Fernglas sah ich den dünnen Arm, der befehlend ausgestreckt war, den Unterkiefer, der sich bewegte, die Augen dieser Erscheinung, die tief in einem knochigen Schädel, der mit grotesken Rucken nickte, leuchteten. Kurtz – auf deutsch heißt das kurz – oder nicht? Nun, der Name stimmte so sehr wie alles andere in seinem Leben – und seinem Tod. Er sah aus, als sei er mindestens zwei Meter groß. Seine Decke war heruntergefallen, und sein Körper tauchte armselig und schauderhaft wie aus einem Leichentuch aus ihr auf. Ich konnte sehen, wie sich das Gitter seiner Rippen bewegte, wie die Knochen seiner Arme winkten. Es sah aus, als habe eine belebte, aus altem Elfenbein geschnitzte Darstellung des Todes ihre Hand drohend gegen eine reglose Menschenmenge erhoben, die aus dunkler und glänzender Bronze gegossen war. Ich sah, wie er den Mund weit öffnete – er sah wie ein gieriger Dämon aus, als wolle er alle Luft, alle Erde und alle Menschen vor sich verschlingen. Eine tiefe Stimme drang schwach bis zu mir. Er muss gebrüllt haben. Kurtz wehrt sich mit aller ihm noch verbliebenen Kraft. In seinen Fieberträumen schwelgt er nochmals in seinen Allmachtsfantasien: "Meine Braut, meine Station, meine Karriere, meine Ideen". – Sein Tod kann nicht mehr aufgehalten werden: Niemals habe ich eine solche Veränderung in einem Gesicht gesehen, und ich hoffe, nie mehr so was zu sehen. Oh, ich war nicht gerührt. Ich war fasziniert. Es war, als sei ein Schleier zerrissen. Ich sah düsteren Stolz, erbarmungslose Gewalt, feigen Schrecken auf diesem Gesicht aus Elfenbein, tiefe und hoffnungslose Verzweiflung. Lebte er sein Leben nochmals, jeden einzelnen Wunsch, jede Versuchung und alle Hingabe, während jenes höchsten Augenblicks vollkommenen Wissens? Flüsternd schrie er etwas irgendeinem Bild entgegen, einer Vision – er schrie zweimal, nicht lauter als sein Atmen: "Das Grauen! Das Grauen!"
Marlow beobachtet, wie die "Pilger" am nächsten Tag etwas in einem Schlammloch begraben. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2002 / 2007 Textauszüge: © Haffmans Verlag, Zürich Seitenanfang |