Urs Widmer: Im Kongo (Roman) |
Urs Widmer: Im Kongo |
Inhaltsangabe: Sie sprach mit jenem Akzent, den man lieben muss, will man das Gesagte verstehen.
Es stellt sich heraus, dass Fritz Berger und Kunos Vater sich kennen. Sie haben sich vor fünfzig Jahren zum letzten Mal gesehen. Beide arbeiteten im Zweiten Weltkrieg für den Nachrichtendienst der Schweizer Armee "Wiking". Fritz Berger war der Kurier, und Kuno Lüscher der Führungsoffizier. "Tote! ... Millionen Tote! So viele Tote wie noch nie in der Geschichte der Menschheit! Hekatomben!" Konnte es sein, dass mein Vater es nicht mehr wusste? "Die, die in den Straßen erschlagen wurden? Die, die sie in Kanäle stießen ... Die im Ghetto? Die Frauen mit ihren Kindern im Arm, in die Gruben gestoßen? Kalk drüber, und dann die nächste Schicht Menschen? Kurzsichtige, deren Brillen zerschlagen wurden, sie sahen ihr Ende wenigstens nicht? ... Die, die sie mit Stangen in Eislöcher stießen? ... Die sie in die Duschräume trieben, und dann warfen sie das Gas zwischen ihre Beine! Die im elektrischen Zaum schmorten! Denen das Hirn herausoperiert wurde! ... Und die, die verhungerten ... Habt ihr sie vergessen?" "Nein", sagte Kunos Vater. "Keinen." Fritz Berger war "Kaufmann für optische Geräte", wie er sich selbst bezeichnet. Weil seine Firma ein hoch empfindliches Nachtsichtgerät entwickelt hatte, für das sich die deutsche Wehrmacht interessierte, wurde er bei Hitler auf dem Berghof vorgeladen. "Erstklassiges Gerät", lobte Hitler. Die Linsen müssten extremen Temperaturen standhalten, wenn sie im russischen Winter eingesetzt werden sollten. "Von Brauchitsch warnt mich jeden Tag vor dem russischen Winter. Ein Oberkommandeur, der sich vorm Schnee fürchtet, bevor die Schlacht überhaupt angefangen hat! Sehen Sie irgendwo einen russischen Winter?" Dabei weist er zum Fenster hinaus. "Weit und breit kein russischer Winter. Im September ist ganz Russland deutsch. Der Rote Platz braun. -- Was bin ich heute guter Laune!" Hitler machte es sich auf dem Sofa bequem. Jeder meint mich zu kennen ... Jeder glaubt zu wissen, dass ich nicht rauche. Dass ich kein Fleisch esse. Dass ich nicht trinke. Das denkt doch jeder. Sie doch auch! ... Wissen Sie, warum kein Nikotin, keine Tierfaser, kein Alkohol meinen Körper verunreinigt? Weil ich das so will! Ich kann auch das Gegenteil wollen!
Und dann bestellte er drei doppelte Obstler. Der Schnaps musste aber erst im Dorf besorgt werden. Die Flasche wurde durch Ex-Trinken geleert und die Unterhaltung immer ungezwungener. Wir wissen nicht, warum wir schwarz wurden. Wir waren es plötzlich. Es ist jedenfalls nichts Oberflächliches. Keine Pigmentveränderung, durch die Sonne etwa. Unsre Tochter kam schwarz auf die Welt.
Willy muss zu einem "Königstreffen", bei dem sich die mächtigsten Stämme des Dschungels treffen. Und dafür benötigt der Brauereibesitzer einen "Groß-Wesir", so will es der Brauch. Bei dem Ritual kommt es auf Machtabgrenzung und Sozialkontakte an; am Rande der Konferenz sind Handelstätigkeiten nicht verpönt. ("Auch die Direktoren von Toyota und Nestlé Zaire sind heute recht wichtige Dämonen.") Die Stammesfürsten versuchen, sich mit dem Prunk ihrer Maskierung gegenseitig zu übertreffen. Zwei Frauen zogen mich ohne weitere Umstände aus und rieben mir Ruß ins Gesicht, ohne dass ich eine Chance gehabt hätte, sie abzuwehren ... Sie steckten mich in ein schweres Kostüm, das auf der Haut kratzte und entsetzlich stank. Alter Ziegenbock. Ich war mit Zotteln und Fetischen behangen, mit toten Fröschen, Hühnerkrallen, Schlangenhäuten. Schellen und Glocken hingen wie Gürtel um mich herum. Ich schwitzte sofort Bäche. Ich kriegte eine Maske, ein tonnenschweres, fast einen Meter hohes Ding mit einem hohen Spitzhut, aus dessen Augenlöchern ich kaum mehr als die Beine der Menschen um mich herum sah. ... Oben auf meiner Maske war eine mit einem dunklen Stoff bezogene Laterne befestigt. Ich konnte sie in Betrieb setzen, indem ich einen kleinen Schalter im Ärmel bediente. Batterien gab es offenbar in Willys Königreich. Seltsame Dämonensymbole wurden sichtbar.
Die Tradition gebietet es, dass die höchstgestellten Teilnehmer des Königstreffens in ein Bordellzelt geführt werden. Dort erwarten fünf weiße (!) Frauen, alle in schwarzen Unterkleidern, auf Matratzen liegend die Männer.
Als ich die Hände wusch und in den Spiegel schaute, sah ich, dass ich einen weißen Vollbart hatte. Kraushaare. Und dass mein Gesicht tiefschwarz war. Als Kuno im Altenheim ankommt, findet er seinen Vater im Sterben vor. "Papa!", rief ich. "Ich bin nicht Ihr Vater", murmelte er. "Mein Sohn hat keinen Bart." Und etwas später: "Da bist du ja, Kuno", flüsterte er, ohne die Augen zu öffnen. "Wer war denn der Neger mit dem Bart?"
Der Vater will dem Sohn noch die näheren Umstände der Ermordung seiner Mutter sagen, aber dazu kommt es nicht mehr. Wir küssten uns jetzt auf dem Bett liegend und begannen die Himmel der Liebe so begierig zu erstürmen, dass wir wohl den einen oder anderen übersprangen. Jedenfalls waren wir so bald im siebenten, dass wir nicht mehr wussten, wer weiß war und was schwarz. Es war überwältigend. Anne braucht nicht lange überredet zu werden: Sie packt schnell ein paar Sachen zusammen und fliegt mit Kuno in den Kongo: "Afrika hat mich immer begeistert. Ein Jammer, dass ich nicht schwarz bin." Er tröstet sie: "Man kann nicht alles haben." Kuno übernimmt die Brauerei. Alles läuft prächtig. Anne sah anders als zuvor aus. Schöner, strahlender. Ihre Haare waren nicht mehr blond und glatt, sondern flammten purpurn und krausten sich. Ihre Lippen waren voller geworden. Ihre Haut war dunkler. Ja, ich konnte regelrecht zusehen, wie sie schwarz wurde.
Dann fällt dem "Löwenherrscher" plötzlich ein, dass er das Land, auf dem sich die Brauerei befindet, zurückhaben will. Soldaten mit Maschinengewehren marschieren auf dem Anwesen ein. Als die Situation ausweglos scheint, fällt Kuno in letzter Verzweiflung die Visitenkarte ein, die er auf dem Königstreffen zugesteckt bekam: MOBUTO steht in Goldprägung gedruckt und eine Telefonnummer. Als Kuno dem Herrscher sagt, dass Willy nun doch das Land verlassen hat und er sein Nachfolger ist, befiehlt Mobuto, das Feuer einzustellen.
Ich bin, seit einem Jahr und sieben Tagen nun, immer noch fassungslos, wenn ich Anne erblicke. ... Sie, umgekehrt, liebt mich ebenso. Ich bin ja mindestens so schwarz wie sie. Wir küssen uns Nacht für Nacht. Tagsüber arbeiten wir. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2002
Urs Widmer (Kurzbiografie) |