Maarten 't Hart: Der Flieger (Roman) |
Maarten 't Hart: Der Flieger |
Inhaltsangabe:"Mein Vater war Totengräber." (Seite 5) So lautet der erste Satz des Romans "Der Flieger" von Maarten 't Hart. Dabei will der Mann gar nicht so genannt werden: "Mein Vater ist Grabmacher, er will nicht, dass man ihn einen Totengräber nennt. Ich grabe keine Leute tot, sagt er immer." (Seite 51) Nachdem man auf dem Friedhof einer reformierten Gemeinde in den Niederlanden ausnahmsweise eine Katholikin beerdigt hat, wird ein Kruzifix für das Grab angeliefert. Aus dem Verpackungsmaterial bastelt der Grabmacher mit seinem Sohn einen "Flieger", einen Drachen. Dadurch will er erreichen, dass der Gymnasiast in seiner Freizeit nicht nur Bücher liest, sondern hin und wieder in der frischen Luft herumläuft. "Glaub ja nicht", sagte mein Vater, "man könnte einfach so, mir nichts dir nichts, einen Flieger zusammenbauen. Man muss sehr genau arbeiten." (Seite 15) Als der Vierzehnjährige den Drachen einmal allein steigen lässt, nähern sich zwei andere Jungen.
"Sein Vadder is heut nicht dabei", sagte der Beleibtere der beiden.
Einer der beiden schneidet die Schnur durch, und der Drachen geht verloren. "Das geht wirklich nicht", sagt er, "es geht wirklich darum, alle sterblichen Überreste Stück für Stück ordentlich auszugraben und auf den neuen Friedhof zu bringen." (Seite 81) Einige Tage nach dem "Papisten" kommt der Vorgesetzte des Grabmachers auf den Friedhof und versucht ihn zu überreden, die Aufgabe zu übernehmen. "Es ist doch im Interesse der Gemeinde, dass ein Friedhof, so klein er auch sein möge, so akkurat und diskret wie möglich verlegt wird. Werden später an der Stelle Wohnungen gebaut, dann ist der Teufel los, wenn ein Kind plötzlich mit einem Knochen aus dem Garten kommt. Nicht auszumalen!" (Seite 95)
Der Grabmacher besteht jedoch auf einem Klein-Seilbagger, und zwar mit einem Baggerführer. Als schließlich der Bürgermeister auf dem Friedhof erscheint und ihn umzustimmen versucht, schraubt er seine Forderung auf zwei Klein-Seilbagger und zwei Lastwagen hoch. "Wer hätte je gedacht, dass ich mich mal abmühen würde, jemand anderen mit Arbeit zu versorgen?" (Seite 103) Nachdem Pfarrer Baarvink in der Kirche ein Gemeindemitglied ohne Namensnennung ermahnt hat, auf den rechten Weg zurückzukehren, spricht sich rasch herum, dass es diesmal nicht um vor- oder außerehelichen Geschlechtsverkehr geht, sondern um eine Glaubensfrage. Ginus van Diepenburch bezweifelt, dass Vergebung vom Kreuztod Jesu abhängt, denn im Vaterunser heißt es: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern." "Gott vergibt uns, wie auch wir vergeben. Wie wir vergeben müssen. Aber wir vergeben nicht über den Umweg von Blut und Kreuz." (Seite 113)
In einer Diskussion mit den Presbytern zählte er mehrere in seinem Sinne gedeutete Bibelstellen auf und argumentierte mit der Allmacht Gottes: Wenn Gott allmächtig sei, könne er den Menschen auch ohne die Kreuzigung seines Sohnes die Sünden vergeben. Der Grabmacher meint, die Presbyter hätten die Sache besser auf sich beruhen lassen, als den Fall vor den Kirchenrat zu bringen. Dann hätte sich Ginus wieder beruhigt. Aufgrund der Ermahnung verbeißt er sich jetzt in die Auseinandersetzung, die er nicht gewinnen kann. "Nun werden dir endlich mal die Konsequenzen deines verrückten Glaubens vor Augen geführt", fuhr mein Vater fort, "jetzt dringt es allmählich auch bis in dein dumpfes Hirn durch, dass es manchmal gar nicht so einfach ist zu vergeben, dass es manchmal sogar unmöglich ist und dass einem dann, wenn man glaubt, wie du glaubst, niemals von Gott vergeben werden kann. Er vergibt nur, wie auch wir vergeben, sagst du immer. Wenn wir also nicht vergeben, vergibt er auch nicht. Aber so ist es nicht! So haben wir nicht gewettet. Gott vergibt uns, weil sein Sohn am Kreuz für unsere Sünden gebüßt hat, und nicht weil wir vergeben. Weißt du, was ich denke: dass der Herrgott dir eine gesalzene Lektion erteilt. Er hat deine Tochter schwanger werden lassen, um dir tüchtig unter die Nase zu reiben, dass man längst nicht immer in der Lage ist zu vergeben, ja, dass es sogar Situationen gibt, in denen man einfach nicht vergeben kann." (Seite 213)
Dass Ginus aus der orthodox-reformierten Gemeinde verstoßen wurde, hält den katholischen Priester nicht davon ab, mit ihm über die Umbettung der Toten zu reden. Ginus erklärt ihm zwar, er könne das nicht ohne seinen Vorgesetzten entscheiden, aber der Geistliche ködert ihn mit einem Deal: Einer der potenziellen Väter des ungeborenen Kindes wohnt in Nieuw Huys ter Lugt. Der zuständige Pfarrer werde sich ihn vorknöpfen und dazu bringen, Machteld zu heiraten, wenn Ginus zusagt, die Aufgabe zu übernehmen.
"Ach was", widersprach mein Vater, "das kommt nur von den umgedrehten Kragen … die urbien und orbien hinter unserem Rücken herum, keine Ahnung, was die so treiben … und am Ende habe ich das Ganze doch noch am Hals, und das nur, weil Ginus' Tochter ein wandelnder Briefkasten ist und weil nicht ein anständiger Bursche zu finden ist, der so ein abgelecktes Butterbrot heiraten will …" (Seite 229) Vor Weihnachten fährt der Erzähler aushilfsweise Brot aus. In einer Armensiedlung stößt er auf eine aufgedunsene, verwahrloste Frau mit struppigem Haar, die sich offenbar gerade mit ihrem Mann geprügelt hat. Erst nach einer Weile erkennt er sie. Es ist Machteld. Schroff meint sie, sie brauche kein Brot.
"Das kann nicht sein", erwiderte ich, "morgen ist Sonntag, und übermorgen ist Weihnachten. Die Geschäfte öffnen erst am Mittwoch wieder. Du musst für drei Tage Brot im Haus haben." Machteld ohrfeigt den Lieferanten. Dann leiht sie sich von einer Nachbarin einen Teppichklopfer und geht damit auf ihn los. Endlich beachtet sie ihn. Bei diesem erstaunlich gut zu ertragenden wärmenden Schmerz stellte sich ein allumfassendes Gefühl der Wonne ein, weil ich von dem Mädchen geschlagen wurde, das ich jahrelang zutiefst bewundert hatte. Sie hatte mich einfach ignoriert, aber jetzt, jetzt ignorierte sie mich nicht mehr, jetzt schlug sie mich aus Leibeskräften. (Seite 243)
Als sich abzeichnet, dass Ginus mit der Umbettung der Toten beauftragt wird und es heißt, dass ein Hilfsgeistlicher die Arbeit überwachen soll, bewirbt der Grabmacher sich bei der Gemeindeverwaltung in Delft. Ausgerechnet an dem Tag, an dem er mit der Freiwilligen Feuerwehr nach Antwerpen fährt, tauchen unerwartet zwei Abgesandte aus Delft auf dem Friedhof auf, um den Bewerber zu begutachten. Rampene, ein Taubstummer aus dem Altenheim, der sich täglich auf dem Friedhof herumtreibt, rät den Herren per Zettel, statt des Totengräbers dessen Gehilfen einzustellen. "Es ist nicht so, dass ich das unbedingt machen wollte, was mich aber wurmt, ist, dass mir nun die Möglichkeit genommen wurde, das Angebot stolz abzulehnen." (Seite 272)
Eines Abends sagt der Grabmacher zu seinem Sohn: "Wir lassen deinen Flieger steigen." Das Spiel mit dem Drachen dient ihm dazu, unauffällig zu beobachten, was auf dem katholischen Friedhof vor sich geht. Dort werden die Gräber heimlich mit einem Tieflöffelbagger ausgehoben. |
Buchbesprechung:
Der Vater des Ich-Erzählers ist Totengräber, wie der Vater des Schriftstellers Maarten 't Hart. Und aus dem Epilog erfahren wir, dass der im Hauptteil jugendliche Protagonist später Schriftsteller geworden ist. Der Roman "Der Flieger" weist wohl auch über diese Parallelen hinaus autobiografische Züge auf. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Maarten 't Hart (Kurzbiografie / Bibliografie) |